Kinder und Familie:Tabu mit Risiko

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Wenn nicht nur Geschirr zu Bruch geht, sondern auch Kinder Opfer von Gewalt werden, muss das Jugendamt einschreiten. Im Landkreis Ebersberg war das 2023 insgesamt 105 Mal der Fall. (Foto: Fabian Sommer/dpa)

Auch im Landkreis Ebersberg muss das Jugendamt regelmäßig eingreifen, um Kinder vor Gefährdungen in der eigenen Familie zu bewahren. Die Verfahren steigen im Jahresvergleich an.

Von Wieland Bögel, Ebersberg

Überforderte Eltern, vernachlässigte Kinder, Gewalt in der Familie – dies hat bayernweit im vergangenen Jahr genau 20 295 Mal die Jugendämter auf den Plan gerufen. Auch der Landkreis Ebersberg ist keine Insel der Seeligen, hier gab es im Jahr 2023 insgesamt 105 Verfahren wegen einer möglichen Kindeswohlgefährdung, in vielen davon hat sich der Verdacht bestätigt.

Dies geht aus aktuellen Daten des Statistischen Landesamtes hervor. Demnach wurden im vergangenen Jahr im Landkreis Ebersberg 23 Fälle von akuter und 20 von latenter Kindeswohlgefährdung festgestellt. Insgesamt 36 Mal lag zwar keine Gefährdung der Kinder aber ein Hilfebedarf vor, nur in 25 der 105 Fälle war weder eine Gefährdung gegeben noch eine Hilfe nötig.

Sind Gesundheit und Wohlergehen eines Kindes in Gefahr, muss die Behörde eingreifen

Was es mit diesen Kategorien auf sich hat, erklärt Florian Robida, Leiter des Ebersberger Jugendamtes. Eine akute Gefährdung liege immer dann vor, wenn man davon ausgehen müsse, dass Gesundheit und Wohlergehen eines Kindes oder Jugendlichen nicht mehr gewährleistet sind. Dann stehe eine Inobhutnahme an, also die Unterbringung außerhalb der Familie. Zunächst gibt es dafür sogenannte Bereitschafts-Pflegeplätze, dort kommen die Betroffenen für einige Tage unter. Danach können auch Verwandte, etwa die Großeltern, übernehmen – wenn diese der Aufgabe gewachsen sind.

Die latente Gefährdung betrifft vor allem Fälle, in denen Kinder und Jugendliche vernachlässigt werden, beziehungsweise im Haushalt gewisse Mängel festgestellt werden, sagt der Jugendamtsleiter: „Wenn ein Kind nie ein Pausenbrot dabei hat, oder immer falsch angezogen ist oder wenn Sauberkeit ein Problem ist.“ Hier könne man oft mit Hilfsangeboten tätig werden – wenn die Betroffenen denn solche wünschten und beantragten. Wobei es im Bereich der Jugendhilfe weniger bürokratisch zugehe, als in anderen Verwaltungsbereichen: „Wenn jemand sagt, ’Ich brauche Hilfe’, dann ist das ein formloser Antrag“, so Robida. Zudem gebe es im Landkreis Ebersberg noch sehr niederschwellige Angebote, wie etwa die Familienpaten. Die gehen zur Hand, sind aber keine offizielle Hilfsmaßnahme der Behörde.

Bei Jugendlichen komme es auch vor, dass diese selbst um Inobhutnahme bitten

Wie gefährlich nun aber eine Gefährdung ist, sei nicht immer so leicht festzustellen, wie beispielsweise in einem Fall von offensichtlicher Gewalt, wenn blaue Flecken und andere Verletzungen zu sehen sind. Denn vieles, was in den Bereich Kindeswohlgefährdung falle, berühre in den Familien ein Tabu: „Da spricht man nicht darüber, das gibt es nicht.“ Wichtig sei es dann gerade bei älteren Kindern und Jugendlichen, Vertrauen aufzubauen, sagt Robida. Wobei es durchaus auch den umgekehrten Fall gebe: Dass nämlich die Betroffenen selbst darum bitten, aus der Familie genommen zu werden. Dies komme vor allem bei älteren Jugendlichen vor.

Ansonsten wird das Jugendamt tätig, „wenn eine ernst zu nehmende Meldung eingeht“. Die kann aus der Nachbarschaft kommen, genau wie aus dem schulischen oder privaten Umfeld. Aber was ernst zu nehmend ist, stelle sich oft erst bei einem Besuch vor Ort heraus, sagt Robida: „Wir müssen fast immer hin.“ Finden sich dann tatsächlich Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung, müssen zwei Fachkräfte des Jugendamtes entscheiden, wie es weitergeht. Weil es da unter Umständen um sehr weitreichende Dinge geht, wie etwa Inobhutnahmen, „darf das keine Einzelentscheidung sein“, sagt Robida.

Dass Kindeswohlgefährdung nur in ärmeren Familien vorkomme, ist ein Mythos

Tatsächlich in Obhut nehmen musste das Jugendamt im vergangenen Jahr insgesamt zehn Kinder und Jugendliche, wie aus eigenen Zahlen der Behörde hervorgeht. Das ist ein Rückgang im Vergleich zum Jahr 2022 – allerdings sind die Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung insgesamt im Jahresvergleich ein gutes Stück gestiegen und liegen nun wieder in etwa auf dem Wert von 2021. Diese Schwankungen waren auch schon Thema im zuständigen Kreistagsausschuss: „Wir nähern uns wieder dem an, was vor Corona war“, sagte Robida damals. Den Höchststand in der Fünfjahresstatistik nimmt 2019 ein, als es 139 Fälle und davon 20 Inobhutnahmen gegeben hatte.

Ein Trend lasse sich aus dieser Entwicklung wohl aber nicht ablesen, meint Robida, „das ist null planbar“. Diese Erfahrung habe er in seiner Zeit beim Jugendamt gemacht, das gelte auch für den Arbeitsalltag seiner Behörde. So gebe es oft wochenlang keine Meldungen „und dann ballt sich alles in ein paar Tagen – da sind dann natürlich auch alle Bereitschaftsplätze besetzt – und dann ist wieder lange nichts“. Dass es etwa in der Vorweihnachts- oder Urlaubszeit besonders viel Unfrieden in den Familien gebe, sei ebenso ein Mythos, wie jener, dass Kindeswohlgefährdung nur bei ärmeren Leuten vorkomme: „Das zieht sich durch alle Schichten.“

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