Es ist schwer nachzuweisen, inwiefern Josef Wintrich tatsächlich im Detail die Adoptionsakten des kleinen Jungen kannte, der später Haymo Heinrich Heyder genannt werden sollte. Den Namen Heinrich trug er zu Ehren eines berühmten Verwandten seiner Adoptionsfamilie: Heinrich Himmler. Die Eltern des kleinen Haymo wollten sich durch die Namensgebung auch dafür bedanken, dass der „Reichsführer SS“ bei der Adoption behilflich gewesen war. Hermann und Charlotte Heyder hatten das Baby in einem Lebensborn-Heim abgeholt. In diesen Heimen wurden nicht nur Kinder unverheirateter Frauen, die aber der arischen Rassenlehre entsprachen, zur Welt gebracht und weitervermittelt. Auch Kinder, die aus besetzten Gebieten von den Deutschen verschleppt wurden, kamen hier an – wie Haymo Heyder, der in Wirklichkeit Vili Gorucan hieß und in Slowenien zur Welt kam. Seine Eltern wurden von den Nationalsozialisten ermordet, der kleine Bub wurde zur Adoption freigegeben.

Demonstration in München:Das Leid der geraubten Kinder
Das Nazi-Regime ließ in Osteuropa Tausende Kinder verschleppen. Viele Opfer des "Lebensborn" suchen bis heute ihre Identität - und sie hoffen auf Entschädigung vom Freistaat Bayern. Daran erinnern am Mittwoch rund 40 Menschen in München.
Haymo Heyder wurde nicht aus dem Steinhöringer Lebensborn-Heim adoptiert, sondern aus dem Heim „Sonnenwiese“ in Kohren-Sahlis bei Leipzig. Dennoch ist in seinen Adoptions-Unterlagen ein Ebersberger Name zu finden: der von Josef Wintrich. Der spätere Präsident des Bundesverfassungsgerichts war zur Zeit des Nationalsozialismus Vorstand des Amtsgerichts in Ebersberg – und als solcher auch für Lebensborn-Vormundschaften und Adoptionen zuständig.


Laut Forschungen von Kreisarchivar Bernd Schäfer führte Wintrich allein bis September 1944 bereits bei 750 „Lebensborn“-Kindern die vormundschaftsgerichtliche Aufsicht. „Ob der sich bei so vielen Fällen bewusst war, dass sich unter diesen auch ein sogenanntes Eindeutschungskind, namentlich der aus Slowenien stammende Haymo Heyder befand, wissen wir nicht“, so Schäfer. Vonseiten des „Lebensborn“ sei nämlich angegeben worden, dass über den Verbleib der Eltern des Kindes nichts bekannt sei.
Wintrich habe Beihilfe geleistet, sagt Christoph Schwarz vom Verein „Geraubte Kinder“
Andererseits handelte es sich bei Heyder auch um einen besonderen Fall: Schließlich war Heinrich Himmler der Großneffe der Adoptionsfamilie. Nicht nur deshalb gibt es auch andere Ansichten zur Rolle Wintrichs als die Schäfers. „Meiner Meinung nach hat Wintrich Beihilfe geleistet zum Kinderraub in Slowenien“, sagt Christoph Schwarz vom Freiburger Verein „Geraubte Kinder – vergessene Opfer“. Er beschäftigt sich schon seit Langem mit dem Schicksal dieser Kinder und versucht für sie wenigstens noch eine finanzielle Entschädigung für das erlittene Unrecht zu erreichen. „Wer für solche Kinder Adoptionen vermittelt hat, steckt mittendrin, er ist ein Täter“, davon ist Schwarz überzeugt.
Eva Balz, Historikerin am Institut für Zeitgeschichte, die derzeit an einem Forschungsprojekt über das Bundesverfassungsgericht in der Zeit zwischen 1951 und 1970 arbeitet, hat über Ludwig Steininger, der im Landkreis derzeit das Thema erforscht, von Heyder gehört. Sie misst dem Fall durchaus Bedeutung zu: „Für mich ist der Fall sehr wichtig, weil er die Tragweite von Josef Wintrichs Tätigkeit als Vormundschaftsrichter belegt. Vorher hatte ich noch keinen Nachweis dafür, dass er an ‚Eindeutschungen‘ über den Lebensborn e. V. beteiligt war.“
Allein durch die Tatsache, wie der Jurist Lebensborn zugearbeitet habe, disqualifiziere er sich als Vorbild, sagt Christoph Schwarz – und stellt auch eine entsprechende Forderung: Die Ebersberger Realschule solle sich umbenennen. „Bitte prüfen Sie wohlwollend und sorgfältig, ob Ihre Schule weiterhin nach einem NS-Schreibtischtäter benannt werden soll oder ob die Schulgemeinschaft vielleicht eine Namensänderung anstreben möchte“, schreibt er in einem Brief an die Schulleitung.
Der Ebersberger Schulleiter sieht nun zunächst die Historiker gefragt
Grundsätzlich müsste der Impuls für eine Namensänderung von der Schulfamilie ausgehen, die Entscheidung liegt letztlich beim Kultusministerium – und lässt bisweilen sehr lange auf sich warten, wie der Fall des Otfried-Preußler-Gymnasiums in Pullach zeigt. Hier wünschen sich alle Beteiligten in Pullach seit einem Jahr die Umbenennung, nachdem bekannt geworden war, dass der erfolgreiche Kinderbuchautor in seiner Jugend ein glühender Anhänger der Nationalsozialisten gewesen war. Die Tochter Preußlers hatte zudem im Oktober 2024 der Schule die Nutzung der Namensrechte entzogen. Das Kultusministerium hat dennoch immer noch keine Entscheidung gefällt.
Was die Ebersberger Realschule betrifft, so würde man sich gegen eine Umbenennung nicht grundsätzlich sperren, sagt Schulleiter Markus Schmidl: „Die Benennung ist weit vor meiner Zeit im Jahr 1967 erfolgt. Sollten nun neue Fakten zeigen, die nahelegen, dass Dr. Wintrich als Namensgeber in der heutigen Zeit nicht mehr tragbar sein sollte, stehen wir einer Umbenennung selbstredend nicht im Wege.“ Eine Schulbenennung sei mit der Zustimmung des Schulaufwandsträgers, der Lehrerkonferenz, des Elternbeirats und der Schülermitverantwortung möglich. „Wir als Lehrkräfte, haben jedoch weder die Ressourcen noch die fundierten Möglichkeiten, um entsprechende Nachforschungen über Dr. Wintrich zu betreiben, hier wären Fachleute gefragt.“ Sollten bereits eindeutige Rechercheergebnisse vorliegen, wäre man an diesen laut Schmidl „sehr interessiert“.

Dass Josef Wintrich ein würdiger Namensgeber sowohl für die Schule als auch für eine Straße in der Kreisstadt ist, darüber herrschte in Ebersberg seit Jahrzehnten Konsens. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt er als der wohl berühmteste Ebersberger, als ein kritischer, der Humanität verpflichteter Geist, der durchaus auch persönlich für seine kritische Haltung gegenüber den Nationalsozialisten abgestraft worden sein soll. Neuere Forschungen des Instituts für Zeitgeschichte, das die Biografien aller Bundesverfassungsrichter untersucht, lassen allerdings Zweifel aufkommen, ob diese Einschätzung Wintrichs auch der Realität entspricht.
„Mein Eindruck ist, dass dieses Bild von Wintrich in der Nachkriegszeit entstanden ist und nicht unbeträchtlich auf die Anforderungen der politischen Säuberungsverfahren zurückgeht. Aus den Akten, die ich bislang einsehen konnte, tritt Wintrich eher als eine Person hervor, die sich den Anforderungen des Nationalsozialismus durchaus anpasste, um seine berufliche Laufbahn nicht zu gefährden“, so die erste Einschätzung von Historikerin Eva Balz im Sommer 2023.

Ebersberger Persönlichkeit:Karriere ohne Knick
Der spätere Verfassungsrichter Josef Wintrich galt als einer, der sich auch im Nationalsozialismus nicht scheute, Haltung zu zeigen. Ein neues Forschungsprojekt wirft nun ein anderes Licht auf seine Person. Historikerin Eva Balz über einen Mann, der seine berufliche Laufbahn nie in Gefahr brachte.
Tatsächlich sind bisher im Prinzip kaum Primärquellen zutage getreten, die die bisherige Charakterisierung Wintrichs unterstützen würden. Beispielsweise finden sich keine Quellen aus der NS-Zeit, die belegen würden, dass der Jurist nach Ebersberg versetzt wurde, weil er sich zu sehr für Todesfälle im KZ Dachau interessiert haben soll, was jahrzehntelang als Faktum gegolten hatte. Erst viel später, in den 80er-Jahren, ist davon die Rede in einem Rückblick, den ein früherer Kollege Wintrichs für den damaligen bayerischen Justizminister August Lang verfasste. Ebenso ist die bisherige Annahme, dass Wintrich wegen seiner kritischen Haltung die Lehrbefugnis entzogen worden sei, inzwischen widerlegt: Auch in der Zeit des Nationalsozialismus blieb er Dozent unter anderem an der LMU in München.
Im Stadtrat waren die neuen Forschungen nur kurz ein Thema
Im Ebersberger Stadtrat ist das Thema bisher nur kurz aufgeschienen – die Grünen hatten einen Antrag gestellt, sich mit der Vita des Richters zu befassen, ihn aber dann erst einmal wieder von der Tagesordnung nehmen lassen. Man wolle das Ende des Forschungsprojekts des Instituts für Zeitgeschichte und dessen Ergebnisse abwarten, hieß es aus den Reihen der Grünen. Das dürfte voraussichtlich Anfang 2026 der Fall sein.
Bisher jedenfalls sieht Bürgermeister Ulrich Proske (parteilos) keinen Grund, „den Namen Dr. Wintrich aus Ebersberg zu verbannen“. Gerade ein Vortrag von Historiker Bernhard Schäfer vor einigen Wochen habe ihn in dieser Überzeugung bestärkt. „Ich bin schon der Meinung, dass er insgesamt auf der richtigen Seite war“, unterstreicht der Bürgermeister.
Dass das nicht ausschließt, dass man in der Kreisstadt an die Leiden der Lebensborn-Kinder und anderer Opfer des NS-Regimes erinnert, findet Proske freilich auch. Daher will er ein Grußwort sprechen, wenn der Verein „Geraubte Kinder“ am Samstag, 25. Januar, – also kurz vor dem Holocaust-Gedenktag – im Ebersberger Klosterbauhof eine Mahnwache für die Lebensborn-Kinder abhält. An die Innenfassade des Gebäudes will Christoph Schwarz von 17.30 Uhr an Bilder der Opfer projizieren. Anschließend, gegen 19 Uhr, wird im Bürgersaal der Film „Himmlers geraubte Kinder“ gezeigt, der ebenfalls das Schicksal von Haymo Heyder zum Thema hat. Heyder selbst übrigens, der später als Tonmeister arbeitete, bekommt von dem neuen Interesse an seinem Schicksal nichts mehr mit: Er ist vor zwei Jahren in Costa Rica gestorben.