Ausgeflogen! Nun sind sie dahin, die kleinen Piepmätze, die man gefühlt ewig und gleichzeitig nur so kurz beim Wachsen beobachten konnte. Sorgsam verborgen hinter der halb geöffneten Haustüre oder durch das kleine Glasfenster, knapp über Augenhöhe der Autorin. Gern hat sie sich viertelstundenlang auf Zehenspitzen gestellt, um zu sehen, wie aus dem undefinierbaren Wirrwarr von Moos, Zweigen und Gras auf dem Holzbalken der Überdachung direkt vor dem Eingang fünf kleine, dunkle Köpfchen hervorschnellten. Der ganz links außen war immer der Erste. Und die Mutter (oder vielleicht der Vater – laut Vogelexperte füttern beide), die sich vor den weit aufgesperrten gelben Gierschlünden aufbaute mit gestrengem Blick, als wollte sie sagen: „Habt ihr euch den Schnabel vor dem Essen auch ordentlich geputzt?“
Es war nicht die erste tierische Kinderstube direkt vor der Tür. Vor etwa zehn Jahren war nach der Rückkehr aus dem Pfingsturlaub das Staunen über den Dreck auf dem Eingangspodest groß. Die Nische des Dachbalkens hatte man dabei nicht auf dem Schirm – bis eines Morgens lautstark und nachdrücklich ein halbes Dutzend Jungvögel nach Futter schrie. Und dann immer wieder. Das war manchmal lästig, doch viel öfter sehr nett – wie das auch bei Fremdbabys der Fall ist, die man unter anderem auch dafür liebt, dass ihr Hunger von jemand anderem gestillt werden muss.
Wie traurig es war, eines Morgens beim Hereinholen der Zeitung ein mageres und sehr totes Junges zu finden, das die anderen wohl aus dem Nest geworfen hatten! Zum Glück blieb es bei dieser einen Episode, offenbar gelang es den Vogeleltern später, allen kleinen Fressmaschinen kontinuierlich genügend Nahrung zu verschaffen. Ob es wohl auch daran lag, dass man so manches Mal den Weg zur Mülltonne über die Terrasse, quer durch den Garten des Nachbarn und an dessen Haus vorbei, zurücklegte, statt die wenigen Schritte durch die Haustüre zu gehen, um die anfliegenden Alten ja nicht durchs Öffnen zu verschrecken?
Nun sind sie also auch diesmal flügge geworden. Heimlich, irgendwann, als man nicht da war. Beim Wegputzen der letzten Hinterlassenschaften fragt man sich: Was sie wohl jetzt machen werden? Wurden sie genügend aufs echte Leben vorbereitet, von Papa und Mama vor flinken Katzen und hungrigen Sperbern gewarnt? Erfahren wird man das nicht – auch nicht, ob sie sich erinnern werden an die vorsichtig halbgeöffnete Tür, hinter der eine Menschenfrau mit kleinem, seligem Lächeln auf jedes gierige Piepiepiepiep lauschte, während sie einen verwackelten Handyfilm nach dem anderen drehte. Aber vielleicht, vielleicht kommen sie ja wieder im nächsten Jahr und nutzen das Nest für ihre eigene Brut?