Lässt sich ein kulturelles Ereignis aussagekräftig vermessen? Durchaus. Und im Falle der neuen Show von Movimento, einer sehr erfolgreichen Bewegungskünstegruppe aus Grafing, sind allein die Zahlen beeindruckend. 125 Artistinnen und Artisten zeigen dort in 13 Disziplinen ihr Können, unterstützt von mehr als 50 Helfern. 92 Quadratmeter Bühnenfläche stehen ihnen dafür im Alten Speicher in Ebersberg zur Verfügung. Für fünf Vorstellungen wurden rund 2300 Tickets verkauft – mehr geht nicht, die Bude ist jedes Mal voll. Außerdem zählen die Movimentos gehörigen Verbrauch auf: „3141 Minuten Warmup, 653 Liter Schweiß, 592 Meter Kinesio-Tape und neun zerbrochene Besen.“
Doch nun, nach der Premiere, lässt sich eindeutig sagen: Der Aufwand hat sich mehr als gelohnt. Die neue Show ist erneut ein Meisterwerk, sportlich wie künstlerisch, das Publikum erlebt hier eine groß angelegte, höchst dynamische Komposition aus Bewegung, Musik und Emotion.
„Central Station“ lautet der Titel der Show – der Bahnhof als ein Knotenpunkt des Lebens, an dem verschiedenste Menschen zusammenkommen. Und diese Vielfalt spiegelt sich in den unterschiedlichen artistischen Darbietungen wider. Außerdem bietet das Motto freilich viel Gelegenheit für Humor. Immer wieder erklingen Durchsagen wie am Bahnsteig, eine kurze Umbaupause zum Beispiel wird mit „stark eingeschränktem Zugverkehr“ wegen irgendwelcher technischer Probleme begründet. Besonders erheiternd aber sind die optimistischen Ansagen: „Vorsicht, die S6 Richtung Ebersberg fährt ein!“ Ach was.
Aber auch einen emotionalen roten Faden haben die Movimentos gestrickt: Als Protagonistinnen fungieren zwei Schwestern, zwei Waisen, die auf der Suche sind nach dem richtigen Weg im Leben. In welchen Zug sollen sie steigen? Wie die Weichen stellen? Verschiedene Phasen machen die beiden während des Abends durch, doch am Ende, so viel soll verraten werden, lösen sich Trauer, Trotz und all die anderen schwierigen Gefühle auf in einer festen Umarmung. Die beiden Darstellerinnen glänzen durch schauspielerisches Talent, aber vor allem auch gesanglich. Respekt, wie sie den Rosenstolz-Hit „Ich bin Ich“ zu ihrem ganz eigenen Song machen.
Hinter dem ganzen Spektakel stecken drei kreative Köpfe: Uli Schatz, Lisa Eberherr und Stefan Eberherr zeichnen verantwortlich für Idee, Konzept und Regie. Sie haben diese Reise gestaltet, die sich zusammensetzt aus zahlreichen sehenswerten Stationen. Aus feinst austarierten Choreografien, spektakulären Lichteffekten, diversen liebevoll erdachten Details und einem wunderbaren Soundtrack. Die Movimentos haben zahlreiche Songs gefunden, die nicht nur zum Thema passen, sondern das Publikum mal swingend, mal fetzig, mal sphärisch in die jeweils gewünschte Stimmung versetzen. Am Ende, zum großen Finale mit allen Mitwirkenden, bebt der Saal vor Begeisterung.
Schön ist auch, dass in dieser besonderen Bahnhofshalle sowohl die Fortgeschrittenen als auch die Anfänger Raum bekommen. Letztere dürfen erste Hebefiguren, Tänze und andere Kunststücke zeigen. Und selbst bei den Jüngeren sieht das alles unfassbar synchron und leicht aus. Ein Spagat? Lächerlich! Die Kostüme liegen dabei oft voll im Trend, die Mädels tragen strenge Frisuren, meist geflochten, und zeigen den Bauchnabel, ihre Füße stecken in weißen Sneakern sowie ebensolchen Tennissocken.
Im wahrsten Sinne Atem beraubend sind die Auftritte der älteren Akrobatinnen und Akrobaten. Da schrauben sich die Pyramiden in schwindelerregende Höhen, da werden Frauen auf Händen getragen, da fliegen Leiber meterweit durch die Luft. Das alles geht nur mit einem Maximum an Kraft, Körperspannung – und gegenseitigem Vertrauen. Doch auch hier ist die scheinbare Beiläufigkeit der Leistung Programm: Diese Reisenden lesen, aber freilich nicht im Sitzen, sondern in allen (un)möglichen Positionen.
Ein besonderes Highlight ist die Luftartistik im Duo oder Trio auf der Mittelbühne. An Bändern, in Netzen, mit Vertikaltüchern oder am Trapez überwinden die Darstellerinnen scheinbar die Schwerkraft. Schwingen oder drehen sich nach oben, zeigen Figuren und Verwicklungen aller Art, nur um dann wieder in rasendem Tempo gen Boden zu stürzen. Wie Puzzleteile greifen ihre Körper perfekt ineinander, zum Beispiel im Spagat, Bein an Bein. Zwei höchst poetische „Weiße Tauben“, inklusive Federn in der Luft, lassen einen glauben, man säße direkt in einer Schneekugel.
Aber auch der gute alte Handstand hat die Movimentos zu einer eigenen Truppe inspiriert, sie zeigt, was Kopf über alles möglich ist. Junge und etwas ältere Business-Ladies in schwarz-weiß, nein, Verzeihung, ein Gentleman ist auch dabei, vollführen den Handstand auf den Schultern anderer Artisten oder auf Koffern, stehend wie laufend, und bilden einen wunderbaren Strauß aus Beinen.
Eine sehr spezielle Art der Fortbewegung bietet das Cyr-Wheel, ein mannshoher Reifen. Zu coolen Elektrobeats rollen zwei Artistinnen damit über die Bühne – eine Dressur der Extraklasse, wie diese sicherlich schwer kontrollierbaren Riesenringe den beiden Damen gehorchen.
Doch die Movimentos greifen nicht nur auf traditionelle Artistikgeräte zurück, nein sie erfinden auch neue, um all ihren Anforderungen gerecht zu werden. In der Show das erste Mal zu sehen ist die Aerial Sphere: eine Kugel, die aus mehreren Trapezringen besteht, so dass daran mehr als zwei Personen gleichzeitig turnen können. Darin liegt aber auch eine besondere Herausforderung, nämlich dass die Artistinnen sich möglich synchron bewegen müssen, um die schwebende Kugel in Balance zu halten – was ganz wunderbar gelingt.
Schon eine lange Movimento-Tradition haben die beiden Disziplinen Einrad und Jonglage. Dementsprechend groß ist das Können der Mitglieder dieser Untergruppen. Auf nur einem Rad tanzen sie regelrecht Ringelreihe, nehmen sogar noch andere auf die Schulter. Und bei einer rockig-wilden Wurfsession fliegen nicht nur zahlreiche Bälle, sondern auch Keulen und Flaschen durch die Luft. Ein fröhliches Miteinander, das sogar scheinbare Fehler in Kunstgriffe verwandelt.
Wie steppen, nur viel cooler ist, was der „Kehr-Trupp“ veranstaltet. Die von der Perkussion-Band Stomp inspirierte Darbietung kommt sehr sympathisch rüber: Die Artisten in Latzhosen wischen, stampfen und schmeißen mit ihren Besen und kreieren so einen mitreißenden Beat.
Am Ende ist klar: Keine Sekunde dieser zweistündigen Show ist langweilig, ganz im Gegenteil. Manchmal vergisst man vor lauter Faszination sogar, zu klatschen. Selbst ohne persönlichen Bezug zu einem der Mitwirkenden stellen sich die Härchen auf, werden die Augen feucht – und groß vor Staunen: Was alles möglich ist, wenn ganz unterschiedliche Menschen gemeinsam ein großes Ziel verfolgen. Wahnsinn!