Süddeutsche Zeitung

Ebersberg:Die Moral der Medizin

Vorgeburtliche Tests sind umstritten. Experten besprechen Chancen und Risiken bei einer Podiumsdiskussion

Von serafine dinkel

Ebersberg - Wenn die Wissenschaft immer weiter voranschreitet, bleibt die Moral manchmal auf der Strecke. Begriffe wie "Präimplantationsdiagnostik" erinnern einige an die gruselige künstliche Gebärmutter aus Aldous Huxleys Dystopieklassiker "Schöne Neue Welt". Um Behauptungen und Ängste zu entwirren und sich ein klares Bild von medizinischen und moralischen Standpunkten zur Pränataldiagnostik zu machen, lud die evangelische Gemeinde Experten ins Gemeindezentrum in Ebersberg ein. Zu einer Podiumsdiskussion kamen dort der Allgemeinmediziner Winfried Bauer, der Anästhesist Hajo Schneck, die Gynäkologin Yukiko Nave, Pfarrerin Renate Zorn-Traving und Anton Karl, Gründer des Einrichtungsverbunds Betreuungszentrum Steinhöring, aufeinander.

Zunächst geben Bauer und Schneck, beide aus Ebersberg, eine Übersicht über moderne Entwicklungen der Medizin: Während Bauer die fortschreitende Beherrschbarkeit von Krankheiten und den Ausbau sozialstaatlicher Angebote als vorteilhaft wertete, bremste Schneck dessen Optimismus nach gewohnter Manier. Eine höhere Lebenserwartung könne auch längeres Leiden bedeuten. Und: Die moderne "Gentechnik wurde nicht für den Menschen, sondern für den Kommerz geschaffen, für Nutztiere und Landwirtschaft".

Als Fachfrau stellt Nave erst einmal klar, was Pränataldiagnostik bedeutet. Dazu werden entgegen populärem Glauben alle Untersuchungen während der Schwangerschaft gezählt, auch der Ultraschall. Hinzu kommt die Fruchtwasseruntersuchung, durch die eine anormale Chromosomenkombination wie die Trisomie 21 festgestellt werden kann. Neuerdings verwende man dazu auch einfache Bluttests. Allgemein würden diese jedoch nur bei genetischer Vorbelastung durchgeführt. Bei einer Anomalie folgten weitere Tests und eine intensive Beratung; danach erst werde eine Entscheidung über Weiterführung oder Abbruch der Schwangerschaft getroffen. Dazu liefert Nave interessante Zahlen. Das Fehlbildungsrisiko für ein Kind liegt bei vier Prozent, aber nur fünf bis zehn Prozent der Fehlbildungen sind genetisch bedingt. Der Rest entsteht durch eine neue Mutation. Und: Von 100 000 Abtreibungen im Jahr 2015 wurden 96 000 aus nichtmedizinischen Gründen vorgenommen, nur knapp 4000 aufgrund einer medizinischen Indikation. Insofern sei der Einfluss der Pränataldiagnostik auf das "Abbruchsverhalten" vermutlich nicht enorm, so die Ärztin aus Grafing. Zumal die Diagnostik ohnehin nicht gleich eine Abtreibung bedeute: Bei einem problematischen Befund könne man auch eine passende postnatale Versorgung für das Kind vorbereiten.

Anton Karl hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Menschen mit Behinderung von der Kita bis zum Seniorenheim zu fördern und zu unterstützen. Für alle Lebensalter gibt es ein Angebot des Betreuungszentrums Steinhöring. Die gesellschaftliche Akzeptanz habe sich Schritt für Schritt gewandelt, erklärt Karl. Während Behindertenzentren in seiner Jugend noch "Krüppelheim" hießen und sozialdarwinistisches Gedankengut noch immer vorhanden war, gebe es heute individualisierte Betreuung und Förderung. So sei es ein starkes Symbol, dass gerade Steinhöring als ehemaliger Standort des NS-Lebensborn-Programms so vorbildlich entwickelt sei.

"Für Gott ist jedes Kind liebenswert als sein Ebenbild", sagt Pfarrerin Zorn-Traving, das sei die gemeinsame Meinung der beiden christlichen Kirchen. In einer Stellungnahme von 1997 betonten diese, dass eine Entscheidung für das Kind gefördert werden solle, und dass das "Recht auf Nichtwissen" der Mutter ernst zu nehmen sei. Dieses sei seit 2015 auch rechtlich verankert, fügt Nave hinzu: Die Frau müsse jeglicher Untersuchung zustimmen. Doch das stelle Schwangere auch vor einen belastenden Entscheidungsmarathon. Im Publikum stimmen viele ihr zu.

Auf die Frage, wie die Begleitung eines betroffenen Paars aussehe, weist Nave auf spezielle Betreuungszentren hin. Aus dem Publikum springt Elke Holinski-Feder vom medizinisch-genetischen Zentrum in München ein: Nach humangenetischen Tests würden viele lange Gespräche mit verschiedenen Stellen geführt. Sie erzählt von zwei Paaren, die ein schwerbehindertes Kind erwarteten. Während die einen sich durch die Beratung bestärkt fühlten, fühlten sich die anderen zu schwach. Beide wurden nach ihrer jeweiligen Entscheidung weiter begleitet. "Ich bewundere Leute, die sich für das Kind entscheiden. Aber ich verstehe auch die, die es nicht tun".

Letztlich werden sich an diesem Abend alle einig: Eltern dürfen nicht bedrängt, sondern sollen fachgerecht informiert und nach Kräften unterstützt werden, um ihre eigene Entscheidung zu treffen. Und, daran erinnert Schneck: Das Wohl des Kindes, nicht das der Eltern, ist letztendlich das Allerwichtigste.

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Quelle:
SZ vom 27.06.2016
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