Süddeutsche Zeitung

Gesundheit in Ebersberg:"Wahrscheinlich sitzen viele daheim und brüten etwas aus"

Seitdem Corona auf dem Vormarsch ist, beobachten Kreisklinik und Arztpraxen im Kreis Ebersberg einen gefährlichen Trend: Patienten kommen erst, wenn die Beschwerden immens sind.

Von Johanna Feckl, Ebersberg

Corona sorgt nicht nur für umgerüstete Krankenhäuser, gewappnete Intensivstationen und ein umstrukturiertes Netz an niedergelassenen Arztpraxen - sondern auch für gähnende Leere: Diesen Eindruck gewinnt, wer sich mit dem ärztlichen Direktor der Ebersberger Kreisklinik, Peter Kreissl, unterhält. Wenn es nicht um Covid-19-Erkrankungen geht, bleiben die Patientinnen und Patienten aus. "Unsere Klinik ist momentan zu 50 Prozent belegt, an manchen Tagen sind es auch unter 40 Prozent", sagt Kreissl. "Normalerweise sind es um die 80 Prozent." Und nicht nur das: Die Befunde derjenigen, die dann doch kommen, sind laut Kreissl in vielen Fällen schwerwiegender als vor Corona.

Dass es in der Klinik derzeit viele freie Betten gibt, liegt zum einen daran, dass planbare Behandlungen, soweit medizinisch vertretbar, bis zum 15. Mai zurückgestellt oder unterbrochen werden mussten. Das besagt eine Allgemeinverfügung des bayerischen Gesundheitsministeriums vom 19. März. Damit schaffte man in den Kliniken Kapazitäten beim medizinischen Personal und den zur Verfügung stehenden Betten für Corona-Patienten. Operationen, die typischerweise verschoben wurden, sind etwa Hüfteingriffe, Knieprothesen oder die Entfernung gutartiger Tumore, wie Kreissl berichtet.

Das alleine erklärt aber nicht, weshalb die Klinik an manchen Tagen nur mit halb so vielen Patientinnen und Patienten belegt ist wie gewöhnlich. Denn auch das ist recht wahrscheinlich: Viele Menschen haben Angst, sich im Krankenhaus mit dem Coronavirus zu infizieren.

Ein Anruf beim BRK in Ebersberg lässt dieselbe Schlussfolgerung zu. Die Einsätze sind weniger geworden, wie Pressesprecherin Erika Habenicht mitteilt. Die konkreten Zahlen dazu liefert das Erdinger Landratsamt, in deren Gebiet die Integrierte Leitstelle (ILS) Erding sitzt - von dort werden auch alle Rettungseinsätze im Landkreis Ebersberg koordiniert. Im März 2019 gab es noch 321 Notarzteinsätze, ein Jahr später waren es 280. Das entspricht einem Rückgang von knapp 13 Prozent. Die Zahlen für den April sind noch deutlicher: Bis zum 22. April gab es im Vorjahr 228 Einsätze mit einem Notarzt, im gleichen Zeitraum dieses Jahres waren es 176 - also ein Minus von beinahe 23 Prozent.

"Wir sehen ganz klar die Tendenz"

Was die Angst vor Ansteckung betrifft, da kann Kreissl Entwarnung geben: Die Klinik hat entsprechende Umbauten vorgenommen, so gibt es nun eine eigene Isolierambulanz und Isolierstation für Corona-Patienten, außerdem herrscht auf allen Stationen Besuchsverbot. Das Risiko einer Ansteckung scheint da sehr gering. "Notfallpatienten sollen natürlich kommen", so Kreissl, "die operieren wir ja, und darauf sind wir auch dementsprechend vorbereitet." Gleiches gilt für schwerwiegende oder langwierige Behandlungen, wie zum Beispiel bei Krebspatienten. Nur geplante Sprechstunden finden derzeit nicht statt.

"Wahrscheinlich sitzen viele daheim und brüten etwas aus", sagt Kreissl. Ganz nach dem Prinzip also: Im Bauch zwickt's und schmerzt's, na das wird schon wieder weggehen. Was aber, wenn die Schmerzen nicht verschwinden, schlimmer werden? Man landet schließlich doch im Krankenhaus - nur dann aber ziemlich sicher mit einem weitaus schwerwiegenderen Befund. "Wir sehen ganz klar die Tendenz, dass Patienten im Moment später kommen als gewöhnlich", sagt Kreissl.

Da ist zum Beispiel die Pathologin aus dem Klinikum in Rosenheim, von der Kreissl erzählt. Über zehn Tage hinweg hätte seine Kollegin überhaupt keinen Blinddarm-Patienten gesehen. Und dann seien aber mehrere auf einmal gekommen, und zwar in einem solch schlimmen Zustand, wie die Pathologin sie bis dahin nur in Ausnahmefällen am Patienten gesehen hätte.

Ein solch langes Aufschieben sei zum Nachteil für alle Beteiligten, erklärt Kreissl: Der Patient hat dadurch länger und stärker Schmerzen, außerdem benötigt er wahrscheinlich eine langwierigere medizinische Versorgung oder einen nun risikoreicheren Eingriff. Und das Klinikpersonal muss diese komplizierteren Eingriffe dann vornehmen und den Patienten länger behandeln. Gewonnen ist durch das Hinauszögern also nichts.

"Wir können nun wieder unser vollständiges Leistungsspektrum anbieten"

Ein Hinauszögern beobachtet auch Marc Block. Als Versorgungsarzt fungiert er als Koordinationsstelle für Arztpraxen im Landkreis und stellt damit die medizinische Versorgung während der Corona-Pandemie sicher. Und er sagt: "Bei den Hausarztpraxen im Landkreis haben wir einen Rückgang von bis zu 80 Prozent bei den Patientenkontakten zu verzeichnen." Er ergänzt, dass dies eine geschätzte Zahl ist. Aber in seiner Funktion als Versorgungsarzt steht Block mit allen Praxen in der Region im ständigen Austausch, er hat also einen guten Überblick.

Ein Problem scheint zu sein, dass niedergelassene Praxen in der ersten Phase der Pandemie tatsächlich keine Vorsorgeuntersuchungen leisten konnten - aber eben nur vorübergehend. So versichert Block, dass Organisationsstrukturen mittlerweile angepasst und die Praxen mit Schutzausrüstung ausgestattet wurden. "Wir können nun wieder unser vollständiges Leistungsspektrum anbieten." Block appelliert "dringend", wie er betont, Facharzt- und Hausarztpraxen wieder aufzusuchen, wenn Beschwerden vorhanden sind oder ein Besuch wegen einer chronischen Erkrankung routinemäßig notwendig ist. Auch dadurch lässt sich wohl in einigen Fällen vermeiden, als Notfallpatient mit schlimmen Schmerzen im Krankenhaus zu landen.

Am Freitag gab Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml in einer Pressemitteilung bekannt, dass ein Stufenplan beschlossen wurde. Dieser erlaube den Krankenhäusern von Mitte Mai an eine schrittweise und vorsichtige Rückkehr in den Regelbetrieb. Bis dahin gilt aber weiterhin: Gibt es Beschwerden, dann "nicht einfach wegdrücken", wie Kreissl sagt.

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SZ vom 29.04.2020/koei
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