An einem Septemberabend im Jahr 2006 wird ein 46-jähriger Mann von seinem Hausarzt wegen Übelkeit, Erbrechens und krampfartiger Unterleibsschmerzen in die Kreisklinik Ebersberg geschickt. Nach einer notfallmäßigen Untersuchung bekommt er Medikamente gegen Fieber und Schmerzen. Oberbauchsonografie, Magen- und Darmspiegelung, die in den kommenden zwei Tagen vorgenommen werden, bleiben ohne Befund.
Weil sein Fieber vier Tage später immer weiter steigt, erfolgt eine Computertomografie - und eine Diagnose. Der 46-Jährige hat eine Blinddarmentzündung und freie Flüssigkeit in der Bauchhöhle. Als er in der nächsten Nacht operiert wird, ist der Blinddarm bereits durchgebrochen. Das Bauchfell ist entzündet, es hat sich ein Abszess gebildet. Ohne Blinddarm und Gallenblase verlässt der Mann das Krankenhaus zehn Tage später. Sein Martyrium beginnt.
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Wegen chronischer Schmerzen in der Leistengegend, einem Taubheitsgefühl im Unterbauch, Koliken, Schwindelattacken und Sehstörungen kann der gelernte Handwerker nicht mehr arbeiten. Heben und tragen, bücken und knien sind nicht mehr möglich. Mit den Blasenentleerungsstörungen und dem Verlust der Potenz steigen seine Minderwertigkeitskomplexe. Der damals 46-Jährige verliert den Appetit, pumpt sich mit Schmerzmitteln voll und lebt von Sozialhilfe. Er kann seinen Haushalt nicht mehr selbständig führen.
Der Fall aus dem Landkreis Ebersberg zählt zu den bundesweit jährlich rund 14 000 Behandlungen, bei denen Fehler vermutet werden und Schlichtungsstellen der Ärztekammern zu prüfen beginnen. Im Jahr 2019 erstellten die Gutachter des Medizinischen Dienstes der deutschen Krankenversicherer (MDK) 14 553 Gutachten. Bei einem Viertel der Fälle bestätigte sich der Vorwurf. Das ist wichtig für die Betroffenen, nur dann bestehen Chancen auf Schadenersatz.
Patienten tragen die Beweislast
Patienten sind häufig auf sich alleine gestellt. Laut Medizinrecht tragen sie die Beweislast. Sie müssen den Fehler nachweisen. Doch komplexe Vorgänge wie Diagnostik und Operationen sind für Laien kaum zu beurteilen. Wer dann vor Gericht verliert, bezahlt auch noch die Prozesskosten. Karl-Heinz Schlee, Vorsitzender der Selbsthilfegemeinschaft Medizingeschädigter in Nürnberg, hört sich seit elf Jahren die Sorgen und Nöte von Menschen an, die Opfer medizinischer Behandlungsfehler sind. Der 75-Jährige spricht von einem Systemfehler. Er übt Kritik am Arzthaftungsrecht, das darin versage, entstandene Schäden rasch zu kompensieren.
"Ärzte werden sehr schweigsam, wenn ein Patient einen Behandlungsfehler vermutet." Kliniken und Arztpraxen stünden unter dem Druck der Haftpflichtversicherer, Schuldeingeständnisse zu vermeiden. Damit seien Betroffene zu einer Klage gezwungen. Und das verärgert Schlee: "Der Patient ist krank, jetzt soll er auch noch klagen." Ein Prozess sei eine Belastung und habe nur Erfolg, wenn der Geschädigte sich engagiert. Das heißt, er muss selbständig medizinische Fachliteratur lesen, um Argumentationstechniken zu entwerfen. Er muss Gutachter und Anwälte finden, die auf Medizinrecht spezialisiert sind. "Damit", sagt Schlee, "sind die meisten Menschen überfordert."
Der Patient aus dem Landkreis Ebersberg, der nach seinem Aufenthalt in der Kreisklinik nicht mehr auf die Füße kam, stieß knapp drei Jahre nach seinem Behandlungsfehler im Internet auf die Rechtsanwälte Quirmbach & Partner, einer bundesweit tätigen Kanzlei, die auf Medizinrecht spezialisiert ist. Die Kanzlei übernahm 2009 das Mandat. Der Patient brachte bereits ein Gutachten des MDK mit, wie Fachanwalt Malte Oehlschläger berichtet. Mehrere Wiedereingliederungsversuche in den Beruf waren gescheitert, die Existenznot war groß.
Niederschmetterndes Urteil nach zehn Jahren Kampf
Der mittlerweile 49-Jährige zog an der Seite des Anwalts Oehlschläger vor die Zivilkammer am Landgericht München II und klagte auf Schadenersatz. Seine Forderung: 400 000 Euro. Die Klage endete im Jahr 2011 mit dem Versuch eines Vergleichs. Das Gericht schlug der Klinik vor, den ehemaligen Patienten mit 150 000 Euro zu entschädigen. Das jedoch lehnte der Kläger ab. Sechs Gutachten und neun Jahre später sprach das Landgericht ein Urteil. Im Frühling 2020 erkannte es den Vorwurf, dass ein grober Behandlungsfehler vorlag, an und forderte die Kreisklinik auf, dies mit 20 000 Euro wiedergutzumachen. Zwanzigtausend Euro. Ein niederschmetterndes Urteil für den inzwischen 60-jährigen Mann nach zehn Jahren Kampf.
Eine knappe Dekade hatten die gegnerischen Parteien um die Frage gestritten, welcher Teil des Schadens auf einen groben Behandlungsfehler zurückzuführen ist und welcher auf eine Vorerkrankung. Wenn ein Fehler vorliegt, muss der Patient belegen, dass seine gesundheitliche Problematik genau auf diesen Fehler zurückzuführen ist und nicht auf die Erkrankung selbst. Die Beweislast, erklärt Oehlschläger, dreht sich erst um, wenn das Gericht einen groben Behandlungsfehler feststellt. Dann müsse der Mediziner beweisen, dass der Schaden auch ohne den Fehler eingetreten wäre, was selten möglich sei.
Der 60-Jährige, der in Berufung gegangen war, bekam drei Monate nach dem Urteil Recht. Ein Gutachter stellte den groben Behandlungsfehler fest; das Oberlandesgericht schlug einen Vergleich über 200 000 Euro vor, den beide Seiten annahmen. Der Vergleich ist rechtskräftig. Nach 14 Jahren kann der Mann einen Schlussstrich ziehen. Oehlschläger zollt seinem Mandanten Respekt. "Er hat den Kampf niemals aufgegeben."
Kläger brauchen Energie, Geld und Geduld
Über all die Jahre habe die Versicherung der Kreisklinik dem ehemaligen Patienten keinen Vorschuss gezahlt. Der Anwalt beobachtet, dass Versicherungen dazu tendieren, erst einmal abzuwarten, obwohl sie in eindeutigen Fällen rechtlich dazu verpflichtet seien, Vorschüsse zu zahlen. Er rät Betroffen, durchzuhalten, nicht aufzugeben und, vor allem, nicht auf die Zinsen zu verzichten. Karl-Heinz Schlee, der Vorsitzende des Selbsthilfegemeinschaft Medizingeschädigter, wird deutlicher. Er spricht von Zermürbungsstrategien. Den Klägern werde vor Gericht ein Martyrium auferlegt, das ihnen einen gewaltigen Aufwand an Energie, Geld, Geduld und Zeit abverlange. Die Beklagten spekulierten darauf, Prozesse in die Länge zu ziehen. Schlee: "Die meisten Kläger werfen irgendwann aus Erschöpfung, Frust, Ohnmacht und Wut das Handtuch."
Stefan Huber, Geschäftsführer der Kreisklinik Ebersberg, bedauert die lange Prozessdauer. Die Klinik allerdings sei nicht involviert, sondern die Haftpflichtversicherung, die auch die Kosten trage. Huber, der seit zwölf Jahren in Ebersberg tätig ist, habe von so einem Fall noch nicht gehört. "In der Regel gibt es zwei Gutachten und dann eine Entscheidung." An der Kreisklinik herrsche eine hohe Fehlerkultur, betont Huber. Penibel würde man eruieren, an welcher Stelle etwas schief gelaufen sei. Und dann Checklisten erstellen, um künftig ähnlich fehlerhafte Behandlungsketten zu vermeiden.