Süddeutsche Zeitung

Asylhelfer im Kreis Ebersberg:Es begann mit einem Keks

Lesezeit: 3 min

2015 erreichte der erste Flüchtlings-Zug den Münchner Hauptbahnhof. Viele hatten so gut wie nichts - und doch hatte ein syrisches Kind noch etwas zu verschenken. Nach fünf Jahren ziehen Asylhelfer aus dem Kreis Ebersberg Bilanz.

Von Korbinian Eisenberger

Der erste Zug aus Budapest kam am 31. August 2015 an. Marthe Balzer stand damals mit ihrer Tochter am Gleis des Münchner Hauptbahnhofs. Es war ein Montagabend, als die Türen aufgingen, und abgekämpfte Menschen mit Tüten und Kisten ausstiegen. "Der ganze Bahnsteig war überfüllt", erzählt Balzer an einem Dienstag fünf Jahre später. Balzer, die Ebersbergerin, war damals 36. Sie und ihre Tochter bildeten das Empfangskomitee - und ihnen fiel diese Frau auf: hochschwanger, zwei Kinder an der Hand. "Sie hatten nichts als zwei Plastiktaschen, einen Schlafsack und eine halb leere Kekstüte." Balzer und ihre Tochter folgten ihnen.

Fünf Jahre sind vergangen, fünf Jahre, in denen München und das Umland internationaler wurden. Die großen Fluchtbewegen 2015 brachten aber auch Herausforderungen. Zur Bewältigung waren dann vor allem die Einheimischen gefragt. Wie in vielen Teilen Bayerns organisierten sich die Menschen im Landkreis Ebersberg in Helferkreisen. Besonders in der Anfangsphase krachte und knirschte es in den Asylheimen und Notunterkünften der Region. Doch der Prozess wäre deutlich problematischer verlaufen, wären nicht die Ehrenamtlichen gewesen.

In der ehrenamtlichen Asylhilfe aktiv: Marthe Balzer,...

... Judith Seibt,...

... und Giulia Hillebrand.

Die Zwischenbilanz nach fünf Jahren klingt zunächst ernüchternd: Aus den Helferkreisen ist zu vernehmen, dass die Zahl der Mitglieder nach der Willkommens-Euphorie stark zurück gegangen ist. Der landkreis- und bayernweit einflussreichste Verein "Seite an Seite" mit Sitz in Markt Schwaben verzeichnet aktuell noch fünf Aktive, bei der Gründung des Markt Schwabener Aktivkreises vor fünf Jahren waren knapp 200 Markt Schwabener erschienen. Auffällig ist aber auch: Jene, die durchhielten, haben vielen Neuankömmlingen einen Neuanfang ermöglicht. Und so berichten die verbliebenen Helfer nach fünf Jahren nicht nur von Frust, sondern auch von Erfolgen - und neuen Lebenswegen.

Wohnraum zu finden ist längst auch in der Region um Ebersberg zum Problem geworden, besonders für Flüchtlinge. Ein Grund, warum das Ehepaar Kirchhoff aus Poing sich Anfang 2016 beim örtlichen Helferkreis anmeldete und eine WG anbot. "Von unseren fünf Kindern wohnt nur noch eines bei uns, also wurden Zimmer frei", erzählt Götz Kirchhoff, 67. So bekamen er und seine Frau Ulrike drei Männer aus Syrien als Mitbewohner. Mietfrei, und dennoch bereichernd, sagt Götz Kirchhoff. "Wir kochen und grillen zusammen, sie mögen unser Essen, und wir das syrische", sagt er. Die neuen Mitbewohner mussten sich an Abläufe gewöhnen, dafür wird im Hause Kirchhoff zum Ramadan erst nach Einbruch der Dunkelheit gespeist.

Es gab nicht wenige finstere Momente, auch das ist bei den Helfern aus fünf Jahren Asylbetreuung hängen geblieben. Besonders in der ersten Hälfte berichteten viele Ehrenamtliche von Konflikten mit dem Landratsamt Ebersberg und der dortigen Ausländerbehörde. "Wir haben mit dem Landratsamt schwierige Zeiten hinter uns", sagt die Markt Schwabenerin Judith Seibt von Seite an Seite. "Erst durch die Presse konnten wir uns dort Gehör verschafft", sagt die 44-Jährige. Mittlerweile, so Seibt, habe sich die Lage "etwas entspannt", es gebe aber auch weniger Berührungspunkte als noch vor zwei, drei Jahren. Sie berichtet, dass mit der Komplexität der Aufgaben die Zahl der aktiven Mitglieder stetig zurück ging. Seibt: "Ich merke, dass uns langsam die Kraft ausgeht."

Es war über weite Strecke ein regelrechter Kampf mit dem deutschen Behördentum, den wenige so hartnäckig geführt haben wie Marlies Froneberg aus Grafing. Die 74-Jährige ist dem Helferkreis Kirchseeon verbunden, im dortigen Ortsteil Eglharting hat sie ihr Haupteinsatzgebiet. Froneberg betreut eine Asylbewerberunterkunft des Landratsamts, in der aktuell zwölf Männer wohnen. Problem: Das Haus gleicht einer Bruchbude. Die Wände haben Löcher, in einem Dreibettzimmer im Erdgeschoss läuft wegen eines Defekts dauerhaft die Heizung. Die zwölf Bewohner müssen sich eine Herdplatte, eine Duschkabine und zwei Toiletten teilen, so erzählt es Froneberg. Und so war es schon vor einem Jahr. Ende August 2019 war der Fall in der Presse, worauf der Garten hergerichtet und ein verschmutzter Swimmingpool auf dem Grundstück gesäubert wurde. Auf die übrigen Mängel sei bis heute nicht reagiert worden, so Froneberg. "Das Haus ist von Ungeziefer befallen, der Schimmel steckt in allen Ecken."

Als im September 2015 immer mehr Züge mit Geflüchteten am Hauptbahnhof ankamen, standen junge Menschen aus München und der Region zum Empfang bereit. Im Helferverein Zorneding, wo zeitweise fünf Mitglieder jünger als 30 waren, ist Giulia Hillebrand mit 31 Jahren mittlerweile die letzte der jüngeren Generation. Die Jura-Studentin hat gerade ihr Staatsexamen geschrieben und sucht nach Erklärungen. "Die Anforderungen an junge Leute werden immer mehr, man hat wahnsinnig viel zu tun", sagt sie. Hillebrand, mittlerweile Vereinsvorstand und Gemeinderätin in Zorneding, zieht den Vergleich zur Kommunalpolitik. "In den Gemeindegremien ist das Verhältnis von jung und alt ähnlich."

Noch immer werden nachträglich Gebührenbescheide an Flüchtlinge verschickt, noch immer existieren Unterkünfte in desolatem Zustand. Nicht wenige Neuankömmlinge haben aber trotz Widrigkeiten Arbeit gefunden, manche gar Wohnraum - etwa die fünfköpfige Familie aus Afghanistan, die nach einem Jahr im Obdachlosenheim eine Bleibe in Ebersberg fand.

Ein neues Zuhause. Das war das große Ziel der schwangeren Syrerin, damals, am Hauptbahnhof. "Erst hatten sie Angst vor uns", erzählt Balzer. Dann verstand die Syrerin: Die Frau und das Mädchen wollten ihrer Familie helfen. Heute lebt sie mit ihrem Mann und den mittlerweile drei gesunden Kindern in Stuttgart. "An Weihnachten schicken sie uns immer ein Foto", sagt Balzer. Am Abend des 31. August 2015 griff das syrische Kind in die fast leere Tüte und schenkte Balzers Tochter einen Keks.

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Quelle:
SZ vom 24.09.2020
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