Festival in Ebersberg:Lebenszeit aus der Mülltonne

Lesezeit: 3 Min.

Wie soll unsere Gesellschaft künftig aussehen? Dieser Frage geht das arkadische Festival im öffentlichen Raum nach. Die neuen Beiträge sind teils sehr humorvoll, teils rätselhaft, immer kritisch.

Von Anja Blum

Ob es in Ebersberg wohl jemanden gibt, der Zeit übrig hat? Diesen heiß begehrten Wertstoff, der einem immer wieder zwischen den Fingern zu zerrinnen scheint, sich leider nicht speichern, vermehren, aufhalten lässt? Wie schön wäre es doch, wenn so etwas wie "Rezeitling" möglich wäre! Wenn bereits verbrauchte, womöglich gar vergeudete Zeit gesammelt und wiederverwertet werden könnte, wie es eine neue Installation des Arkadien-Festivals in Ebersberg suggeriert.

Nach einem "Entschleunigten Parkplatz" in der Altstadtpassage - der, je länger man stehen bleibt, desto weniger kostet - hat der international aktive "Verein zur Verzögerung der Zeit" nun im Klosterbauhof einen "Altzeitcontainer" aufgestellt: eine herkömmliche, große Mülltonne, in der jedoch ein ganz besonderer, höchst flüchtiger Wertstoff gesammelt wird. Verstrichene Zeit. So gibt es ein ganz kleines Einwurfloch für Sekunden, ein etwas größeres für Minuten, weiter geht es mit Stunden und zuletzt vollen Tagen. Wer also einen ganzen Monat oder gar ein Jahr zu entsorgen hat, der muss etwas Geduld mitbringen. An der Seite des Containers befindet sich zudem ein kleiner silberner Hahn: "Nehmen Sie sich Zeit", steht darüber. Wohl dem, der gerade ein Gefäß zum Abfüllen dabei hat!

Ja, genau darum geht es diesem Verein: Die Menschen aufmerksam zu machen auf ihren Umgang mit der Zeit. Denn zu oft sei dieser unreflektiert, oder vor allem der ökonomischen Logik von Effizienz unterworfen - obwohl dieses Diktum der Beschleunigung in vielen Bereichen des Lebens großen Schaden anrichte. Auch wenn die Technologie des "Rezeitlings" noch unausgereift sei,schreibt der Aktionskünstler und Vereinschef Martin Liebmann, wolle er die Ebersberger dazu einladen, gebrauchte Minuten, Stunden und Tage zu sammeln. Wer am Altzeitcontainer in der Kreisstadt vorbeikommt, soll erst einmal herzhaft lachen, aber auch innehalten und bestenfalls ein wenig nachdenken. Wie nutzen wir unsere Zeit? Was geschieht mit der bereits verstrichenen? Wann ist sie von Wert? Ebenfalls sehr humorvoll und interaktiv ist Frenzy Höhnes Beitrag zum arkadischen Festival in Ebersberg - und auch hier geht es um einen bewussten Umgang mit unserer Zeit: Die Künstlerin aus Leipzig überrascht Passanten neuerdings mit einem Postkartenständer vor der Buchhandlung Otter, der kostenlos Aufkleber zum Mitnehmen bietet. "Heute schon:" steht darauf geschrieben - mehr nicht. Doch inmitten eines grünen Rahmens prangt ein freies weißes Feld, in das jeder Mensch einfügen kann, was ihm beliebt. Höhne schlägt vor: Heute schon "gelebt, geliebt, jemanden angelächelt, was Nettes gesagt, mitgedacht oder irgendwem geholfen. Dir selbst was Gutes getan; mal in den Himmel geguckt und durchgeatmet, alles mal fallen gelassen und für einen Moment die Augen geschlossen". So können aus den Schablonen sehr persönliche Momentaufnahmen, Statements oder Fragestellungen werden, "Aufkleber für kleine und große Wichtigkeiten, zum Beschriften für alle und überallhin", wie die Künstlerin schreibt. Eine Aktion also, die ganz analog im Landkreis viral gehen könnte. Höhne jedenfalls hofft, dass die Menschen sich mit ihren Aufklebern gegenseitig anregen, erinnern, mitteilen, mitreißen.

In Ebersberg findet man derzeit auch Plakate, die zur Umkehr aufrufen. (Foto: Christian Endt)

In etwas größerem Format hat Elisabeth Ajtay gearbeitet: Die Künstlerin aus New York City steuert zum Festival eine Poster-Aktion bei. Unter dem Titel "Kehrtwende (U-Turn)" lädt sie in der ganzen Kreisstadt ein zum Richtungswechsel, "zur Reflexion über Denkmuster und deren Zerschlagung zugunsten der Erlangung neuer Freiheit". Zwei Motive hat Ajtay dafür geschaffen: "Fürchte das Bekannte" und "Erkunde das Unbekannte" ruft sie den Ebersbergern mit ihren Postern zu, im Hintergrund jeweils wolkiges Blau. Deswegen gefalle der Künstlerin der Standort vor dem Bürgerbüro der CSU ganz besonders gut, erzählt Festivalleiter Peter Kees und lacht. Eine offizielles Label tragen die Plakate übrigens nicht, ihre Zuordnung bleibt Uneingeweihten also rätselhaft - weswegen die Stadtverwaltung zunächst alle rund 20 Poster wieder abhängen ließ. Aber dieses Missverständnis habe sich ganz schnell aufgeklärt, berichtet Kees. Schließlich erfahren das Festival aus dem Rathaus große Unterstützung.

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Sozusagen an der Heimstatt von Arkadien, der Galerie des Kunstvereins, prangt ebenfalls ein neues Werk: eine Leuchtschrift von Sven Bergelt aus Leipzig. "You are the capital(ist)" steht an der Fassade, wobei bei Dunkelheit die letzten drei Buchstaben mal zu lesen sind, mal nicht. Durch den stetigen Wechsel dieses Wortes ("capitalist/capital") wird also eine permanente Ambivalenz der Lesarten erzeugt. Einerseits konfrontiert der Schriftzug die Betrachter mit ihrem kapitalistischen Handeln. Andererseits erinnert er an die Idee des wirtschaftlichen Humankapitals. Letztlich aber geht es Bergelt darum, "sich gemeinsam gegen die Macht des Kapitals zur Wehr zu setzen". Dann wäre man Arkadien wohl schon einen Schritt näher.

Arkadien-Festival in Ebersberg bis 18. Juli, alle Infos auf der neuen Homepage unter arkadien.info

© SZ vom 09.06.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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