Süddeutsche Zeitung

Demografie:Ebersberg: Neue Akutgeriatrie muss viele Patienten abweisen

Lesezeit: 4 min

Vor acht Monaten öffnete an der Kreisklinik Ebersberg die Abteilung, auf der betagte Patienten eine besondere Betreuung erhalten - falls sie einen Platz bekommen.

Von Dorian Baganz, Ebersberg

Ein wenig fühlt es sich so an, als würde man durch ein Kino der Nachkriegszeit schlendern: An den Wänden hängen Bilder von Marilyn Monroe und Audrey Hepburn, auch ein Filmplakat von Alfred Hitchcocks "Das Fenster zum Hof" ist dabei. Davor steht der Arzt Wolfgang Lenhardt und hat seine Hand in grübelnder Pose ans Kinn angelegt. "Das sind Grace Kelly und James Stewart!", sagt er nach ein paar Minuten Bedenkzeit. Kurz hatte ihn das nicht mehr losgelassen.

Lenhardt ist leitender Arzt der hiesigen Akutgeriatrie. Der Grund, warum alte Kinoposter den Gang zieren, ist schnell erklärt: Man will die Patienten, die durchschnittlich achtzig Jahre alt sind, an die Blüte ihres Lebens erinnern. An die Zeit vor der Gebrechlichkeit, die der Geriater als "Kernproblem des alten Menschen" sieht. Als "Frailty" bezeichnet der Fachmann das. Und so kommen auf seine Station im vierten Stock der Ebersberger Kreisklinik jene Menschen, die im hohen Alter nach einem "akuten Ereignis" - Sturz, Infektion, Infarkt, Operation oder dergleichen - ihr Alltagsleben nicht mehr managen können. Das Ziel ist "Rekonvaleszenz" - also die Genesung der Patienten. Allerdings müssen viele von ihnen abgewiesen werden.

Bevor die Akutgeriatrie existierte, wurden die Betroffenen auf den anderen Stationen im Haus untergebracht, vor allem in der Unfallchirurgie und der Inneren Medizin. Chefarzt Artur Klaiber weist auf das Problem der "blutigen Entlassung" hin: Zu oft müssten Menschen ihr Krankenhausbett verlassen, obwohl sie noch nicht wieder fit seien. Das Modell der Akutgeriatrie sei ein anderes: "Wir wollen die Menschen wieder auf die Beine bringen." Zwei Wochen betrage deshalb die ungefähre Verweildauer hier. Während dieser Zeit wird entschieden: Muss der Patient in ein Pflegeheim? Oder kann er in seine eigenen vier Wände zurück? Favorisiert wird immer letzteres.

Bei zwei Drittel der Fälle gelinge das auch, sagt Wolfgang Lenhardt, "wir wollen den Menschen Würde und Selbstwertgefühl zurückgeben". Bevor er nach Ebersberg kam, hat er schon in Neustadt an der Aisch eine altersmedizinische Abteilung mitaufgebaut. Der medizinische Ausdruck "Geriatrie" steht für "Altersheilkunde".

30 bis 40 Prozent der Leute müssen abgewiesen werden

Akutgeriatrien unterschieden sich von anderen geriatrischen Einrichtungen dadurch, dass die Patienten stationär behandelt werden. Nach Lenhardts Erfahrung dauert es ungefähr drei Jahre, bis man mit einer solchen Einrichtung "optimal verzahnt" sei in der Region. Das heißt: Bis sich die Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten und Pflegediensten eingespielt hat. Davon ist man im Landkreis demzufolge noch knapp zweieinhalb Jahre entfernt: Die Ebersberger Akutgeriatrie öffnete am 1. Juli vergangenen Jahres ihre Pforten. Derzeit stehen 16 Betten zur Verfügung. Ob das wohl ausreicht? Zweifel daran scheinen auf den ersten Blick berechtigt, wenn man acht Monate nach der Einweihung "ungefähr 30 bis 40 Prozent der Leute abweisen" müsse, wie es Wolfgang Lenhardt formuliert. Er sei davon überzeugt, dass die Anzahl der Plätze in naher Zukunft sogar auf mehr als 20 ansteigen müsse - aufgrund der demografischen Situation im Landkreis.

Aufschluss über ebendiese gibt die bis dato unveröffentlichte Sozialplanung des Ebersberger Landratsamtes, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Demnach wird der Anteil der über 50-Jährigen weiter zunehmen. Konkret geht die Behörde davon aus, dass es in acht Jahren 68 976 von ihnen im Kreis Ebersberg geben wird. Im Jahr 2018 waren es noch 58 143 Menschen.

Auch andere Erkenntnisse des Amtes sind im Zusammenhang mit dem Bedarf an akutgeriatrischer Behandlung interessant. So wird in den nächsten Jahren die geburtenstarke Generation der Baby-Boomer "schrittweise in das Rentenalter vorrücken". Und dann gibt es noch eine Ebersberger Besonderheit: Die Lebenserwartung liegt hier mit 85 Jahren bei Frauen "über dem Wert der meisten anderen bayerischen Stadt- und Landkreise". In Wunsiedel im Fichtelgebirge sind es durchschnittlich 82 Lebensjahre, also drei Jahren weniger als in Ebersberg. Mehr alte Menschen gleich mehr "Frailty"? Klar, sagt auch Michael Drey, der die Professur für Geriatrie an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) innehat.

Bayernweit sei in diesem Feld zwar "viel passiert in den letzten Jahren", sagt er. Da müsse man nur einen Blick auf die Homepage des bayerischen Gesundheitsministeriums werfen. Dort werden die nahezu hundert Akutgeriatrien im Freistaat aufgelistet. Trotzdem sei man vielerorts "noch immer unterversorgt", sagt Drey. So müsse auch er in seiner universitären Einrichtung 30 bis 40 Prozent der Patienten abweisen, "das zeigt, dass es noch mehr Bedarf gibt". Es gebe in seiner akutgeriatrischen Abteilung am LMU-Klinikum eindeutig einen Mangel an Betten.

Bettenmangel - ist das auch das Problem in der Ebersberger Akutgeriatrie? Von Stefan Huber, dem Geschäftsführer der hiesigen Kreisklinik, kommt ein klares Dementi: "Wir sind nie zu hundert Prozent ausgelastet." Vielmehr sei es so, dass die Krankenkassen zu vielen die Behandlung nicht bezahlen würden. Es gibt bestimmte Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit eine Behandlung auf der Akutgeriatrie genehmigt wird. Diese haben mit Alter, Vorerkrankung und Genesungschancen des jeweiligen Patienten zu tun. Etwa 60 bis 70 Prozent bekämen mit Blick auf diese Kriterien einen Aufenthalt bewilligt, so Huber. Der Rest halt nicht. "Dabei würde die umfangreiche Behandlung auch den abgelehnten Patienten sicher guttun."

Der Alltag auf der akutgeriatrischen Station seines Krankenhauses ist ein anderer als im Rest der Kreisklinik. So will man, dass sich die Senioren möglichst zu Hause fühlen. Deshalb dürfen sie beispielsweise Familienfotos in ihren Zimmern aufstellen. Das Essen wird "appetitanregend" serviert, ohne Plastikdeckel oder dergleichen, wie man es sonst von Aufenthalten in Hospitälern gewöhnt ist. Und falls jemand nicht selbständig seine Mahlzeiten einnehmen kann, wird er nicht schnell zwischen Tür und Angel verarztet. Stattdessen setzen sich die Pfleger neben ihn, "auf Augenhöhe", wie es der Stationsleiter formuliert, und reichen ihm das Essen - eine Frage des Respekts, sagen sie hier.

Eine weitere Besonderheit ist die Interdisziplinarität: Psychologen, Physio- und Ergotherapeuten, Logopäden, Unfallchirurgen und Internisten arbeiten zusammen, um den Patienten ihre Alltagskompetenz zurückzugeben. Gefördert werden solche Projekte wie in Ebersberg unter anderem von der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU). Und diese schreibt in ihrem aktuellen "Weißbuch Alterstraumatologie", dass die Sterblichkeit älterer Patienten nach einem Oberschenkelhalsbruch um ein Fünftel gesenkt werden könne, wenn Ärzte in einem "multiprofessionellen Team" zusammenarbeiten. Punkt für die Akutgeriatrie.

Noch einmal zurück zur Demografie im Landkreis: Der leitende Arzt Wolfgang Lenhardt sieht den Bedarf auf seiner Station langfristig "weit jenseits der 20 Betten." Auf eine konkrete Zahl will er sich aber nicht festlegen. Zurzeit steht nur Folgendes fest: Im Laufe des nächsten Jahres soll die Zahl der Plätze zunächst auf 24 erhöht werden. Ein Anfang, immerhin.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4839269
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 11.03.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.