Festival EBE-Jazz:Wenn Fantasie die Ketten sprengt

Das Duo "Jazzbaby!" aus Stefanie Boltz und Pianist Christian Wegscheider entfesselt bei einem mitreißenden Konzert im Klosterbauhof gängige Stilgrenzen.

Von Ulrich Pfaffenberger, Ebersberg

Emanzipation von gängigen Stilzuordnungen hatte "Jazzbaby!" für den Auftritt am Sonntag versprochen. Ein gewagtes Vorhaben, so der erste Gedanke, ist doch im Band-Namen genauso wie beim Gastgeber EBE-Jazz zweimal eine solche Zuordnung vorhanden. Doch nicht so gewagt, so der zweite Gedanke, erlaubt doch gerade der Jazz ausdrücklich den spielerischen, improvisatorischen Umgang mit Elementen der ewigen Sprache der Musik. Fällt dann, während des Konzerts, der Blick an die Decke des Aufführungsraums "Unterm First" in der Ebersberger Musikschule, erschließt sich, was hinter dem Versprechen steckt: So, wie der offene Dachstuhl nach den Regeln der Baukunst errichtet worden ist, aber jeder Balken seine eigene Maserung und Farbe, seine menschengemachten Kanten und Unebenheiten, seine Rolle im Zusammenwirken der Konstruktion hat - genauso unabhängig und einzigartig sind die Stücke, die sich Sängerin Stefanie Boltz und Pianist Christian Wegscheider erarbeitet haben.

Erarbeitet unter Umständen, die der Kreativität eine neue Dimension abverlangten: sie in Deutschland, er in Österreich, dazwischen eine Pandemiegrenze, schier unüberwindbar, wenn man keinen Arbeitsoverall mit der Aufschrift "EBE-Bau" hat und vorgibt, statt von der Musik von Dachstühlen und dergleichen zu leben. Das gemeinsame Album "A Tamed Tigers Roar", aus dem die beiden ihren Auftritt überwiegend bestritten, darf mithin als eines der ersten kompositorischen Ergebnisse gelten, das aus der Krise heraus entstanden und öffentlich geworden ist; aus dem Hin- und Hersenden von Digitalschnipseln, solange bis getarnte Proben unumgänglich waren.

Aus Titeln wie "Scuse me" oder "I will not follow you" strömt eine überwältigende Bandbreite an Gefühlen. Sie erreichen das Publikum umso stärker, als das Duo die klassische Rollenverteilung beiseitelässt. Boltz kommentiert das scherzhaft einmal, dass Wegscheider der einzige Pianist sei, der von einer Sängerin begleitet werde. Aber es steckt mehr dahinter: ein fast schon sorgloses Sich-Aufeinander-Einlassen, als wären es der letzte Tag und die letzte Nacht, bevor alles ein Ende hat. Damit aus entfesselter Fantasie entsteht, was Freude macht, unschuldige Freude, als Gegenpol zu den Sorgen und Ängsten, die sich von selbst einstellen. "Wir können den Blues auf der Bühne zelebrieren, wenn wir die Kurve dorthin kriegen", sagt die Sängerin einmal und alle, die dabei sind, verstehen: Musik nimmt der Schwermut ihre Last. Was die beiden da, auf einer Ebene mit ihrem Publikum, ausstrahlen, dringt viel tiefer vor, als man das erwarten kann, wenn man nur zahlender Gast wäre. Offenbar lieben die beiden die Menschen.

Musikalisch ist das Vergnügen gleichermaßen groß wie die Emotionen. Wie Wegscheider durch das Einklemmen einiger Radiergummis in die Saiten seines Flügels einen veritablen E-Bass-Sound herbeizaubert und daraus einen mitreißenden, rockigen Groove erzeugt, das zeugt von einem Soundverständnis, an das man mit elektronischen Hilfsmitteln nie herankommt. Wenn Boltz leidenschaftlich die beachtliche Bandbreite ihrer Stimme ausspielt, von lasziven Tiefen bis zu vibrierenden Höhen, dann ist dies zwar das, was man von ihr kennt und erwartet, aber dennoch so auf den Moment pointiert, als hätte man das vorher von ihr noch nie so gehört. An vier Stellen im Programm vollführt das Duo diese Effekte zur Vollendung: in einer tiefsinnig-farbigen Interpretation von Bob Dylans "Don't think twice", im von Soul erfüllten "Marvelous", in den Latin-Rhythmen von "Better", die im nervenzerfetzenden Kontrast mit Flüstergesang und gespentischen Stimmbildern aus dem Looper stehen, sowie im Herzschlag beschleunigenden "Always", das sein Potenzial zum Ohrwurm nicht nur aus der kuriosen Entstehungsgeschichte zieht, der Aufnahme im Kleiderschrank, "dort, wo die Wintersachen hängen".

Die Sehnsucht nach hörbarer Musik, nach gemeinsamem Konzertieren, nach gedanklichen Ausbrüchen aus der eingeschränkten Wirklichkeit: Wer am Sonntag nicht nur hingehört hat, sondern sich hineingefühlt in die verschiedenen Songs, wer aufmerksam die Blicke, Gesten und Bewegungen wahrnahm, dem öffnete sich das durchgängige Motiv der beiden: Sich (wieder) vertraut zu machen mit dem Fremden, die Angst vor der Gefahr zu überwinden, nicht auf "gut ankommen" zu musizieren, sondern auch "sich wohlfühlen". Dies in eine Matinee zu packen, bei der das silbrige Herbstlicht durchs Fenster hereinflutet, hat dem Publikum genauso gutgetan wie den Künstlern, und dem Festival erst recht, das seinen unverwechselbaren, verlockenden Charakter einmal mehr unter Beweis gestellt hat. Begeisterter Applaus dafür, völlig zu Recht.

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