Süddeutsche Zeitung

Jazzfestival Ebersberg:Im Kunstflug durch die Schaltkreise

Michel Benita und seine Band überwinden im Alten Speicher die Schwerkraft mit verblüffender Leichtigkeit.

Von Ulrich Pfaffenberger

Das also ist die Musik, für die man die Raumfahrt erfunden hat. Ein paar Minuten nur zu spät den Alten Speicher betreten, in dessen Dunkel nur die LED-Scheinwerfer der Bühne glühen und eine Crew von Musikern mit Lichtenergie befeuern - und sogleich abgeholt in die unendlichen Weiten des Weltraums, als habe einer die Schwerkraft gelöscht und den Warp-Antrieb auf vier Instrumente umgeleitet. So etwas gibt es nur donnerstags bei EBE-Jazz, und auch nur, wenn Michel Benita mit seiner Band zu Gast ist. "Looking up Sounds" hieß das Programm für diesen Abend, was sich nicht nur wegen der musikalischen Überwindung physikalischer Gesetze als ehrliches Versprechen erwies. Wer sich diese 90 Minuten gönnte, durfte sich fühlen wie jemand, der William Shatners Kurztrip an die Grenzen des Weltalls mal eben links überholt.

Einem kam dabei ein herausragendes Verdienst zu: Michel Matthieu, der Mann am Flügelhorn, ist ein ebenso waghalsiger wie geschickter Ingenieur. Die Streben und Strukturen, die er mit seinem Instrument errichtet, gereichten jeder futuristischen Maschine zur Zierde. Oder wirken, als seien sie frisch der Fantasie eines Science-Fiction-Zeichners entsprungen. So akkurat dosiert der Schweizer seinen Atem, dass es keinen Hauch zuviel oder zuwenig gibt, sondern Bewegungen hörbar werden, wie sie der Wind im Feld erzeugt und wie wir sie mit Gedanken kaum erfassen können. Gleichzeitig ist er die akustische Dominante im Quartett, tonangebend im stilistischen wie im rhythmischen Sinn. Anders als die erschütternde Posaune oder die forsche Trompete verfügt der Klang des Flügelhorns zudem über eine Textur, die sich um die Melodie und ihre Zuhörer so legt, dass ein Entkommen unmöglich (und unerwünscht) wird. Ein Schutzanzug gegen alle irdischen Anfechtungen. Man will sich hineinlegen und erspürt die Wärme in der Reibung, man will sich davon liebkosen lassen und vibriert mit den Schauern, die über die Hörnerven jagen. Eine faszinierende Idee von Jazz, vermutlich überirdisch.

Dass man sich bei längerem Zuhören an den Stil Jean-Michel Jarres erinnert fühlt, hat auch mit dem charakteristischen Klang der Fender-Rhodes zu tun, von Jozef Dumoulin gespielt in unverfrorener Lässigkeit. Kaum eine Miene verzieht er, kaum bewegt er seine Arme und Hände - und dennoch zieht er einen Soundtrick nach dem anderen aus den elektronischen Schaltungen. Elektriktrick? Oder doch Klanggestalten, die unter den begnadeten Händen eines Tonbildhauers entstehen? In diese Richtung wenden sich beim Zuhören die Gedanken, wenn man versucht, sich den Fluss des elektrischen Stroms durch die abstrakte Skulptur aus Kabeln vorzustellen, die wie digitale Dreadlocks über den Rücken des Instruments hängen. Auch ein gedanklicher Ausritt in die Satellitentechnik kommt einem in den Sinn, während sich im Loop die Melodien digital fortpflanzen und entschweben, derweil ihr Schöpfer anscheinend schon an neuen Schaltungen hantiert.

Ein paar Minuten weiter, wenn die anderen drei seine Vorlagen variieren, auf ihnen ihre eigenen Vorstellungen davon errichten, wohin sich dieses Stück wenden soll, bekommt der Kabelbaum seinen Körper, reckt seine Glieder, streckt sich nach den Sternen - oder was auch immer da oben überm Speicherdach sein mag - und befördert das Publikum in eine Umlaufbahn, von der Captain Kirk nur träumen konnte. Mit einem verführerisch minimalistisch arbeitenden Mann im Maschinenraum, dem Schlagzeuger Philippe Garcia, erkennen wir: Schwerelosigkeit, wenn sie durchs Ohr dringt, dann so. Was beim Zuhören durchaus dazu führt, dass man den Ballast des Alltags abwirft und in eine Phase seligen Daseins entschwebt, die nicht mehr Wachen und noch nicht Schlafen ist.

Zu einer Köstlichkeit gerät schließlich das Kontrabass-Solo des Bandleaders, elektronisch verstärkte Schwingungen, energiegeladen und sinnlich, schließlich von der gezupften Ballade in den treibenden Rhythmus eines Pulsars wechselnd, beim Kunstflug durch die seltensten Galaxien von EBE-Jazz. An den Tischen juchzen, winken und applaudieren die Irdischen, die gar nicht genug bekommen können von dem, was da durch Zeit und Raum schwebt.

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Quelle:
SZ vom 16.10.2021
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