Wenn man glaubt, man hätte schon ausreichend Cellisten gehört, um sich ein Urteil über Instrument und Interpretationen zu bilden, dann kommt doch glatt ein Pieter Wispelwey zum Vaterstettener Rathauskonzert - und belehrt einen eines Besseren. Er gehört zwar zu den angesehensten Vertretern seiner Zunft in Europa, doch sind seine Konzerte meist ein "Kann" im Kalender. Dabei sollten sie ein "Muss" sein.
Selbstbewusstsein ist etwas, woran es Cellisten in der Regel nicht mangelt, spielerische Energie und Hingabe auch nicht. Aber einer derart ausgeprägten Nonchalance, mit der Wispelwey im Bürgerhaus Neukeferloh die Symbiose mit seinem Instrument zelebrierte, begegnet man bei Cellomusik selten. Wispelweys Darbietung von Max Regers "Suite für Cello solo, op. 131c Nr. 1" am Sonntagabend gehört zu den aufregendsten zehn Minuten, die die Rathauskonzerte in ihrer langen Geschichte erlebt haben. Dass der Solist mitunter eine eigenwillige Atemtechnik pflegt und mitunter unbekümmert vor sich hin schnurrt und schnaubt, tut dem Genuss dabei keinen Abbruch. Im Gegenteil: So etwas macht den Unterschied zwischen dem mit Sehnsucht erwarteten "live" und einer Studioaufnahme aus.
Mutig, einen solchen "Knüller" gleich an den Anfang zu setzen? Vielleicht unter anderen Umständen. Von der Dramaturgie dieses Programms her jedenfalls vollkommen richtig. Denn die Suite stellte den Hörsinn des Publikums auf die richtige Wellenlänge ein, um jene Feinheiten wahrzunehmen, mit denen die folgenden Stücke ihren eigenen Charakter erhielten. Wispelwey hatte zu Beginn eine Reihe von Werken angekündigt, durch die sich das Prinzip der Fuge wie ein roter Faden zöge. Beginnend mit Beethovens Sonate für Violoncello und Klavier Nr. 5 machten er und Pianist Paolo Giacometti nachdrücklich deutlich, dass sie die komplexen Regeln dieser Kompositionsform nicht als Werkzeug des Zwangs, sondern des lustvollen Auslotens von Grenzbereichen verstehen. Das ging den beiden so geschmeidig und reibungslos von der Hand, dass nie der Gedanke an Revolution aufkam, sondern man eher meinte, besonders markante Äußerungen eines musikphilosophischen Seminars zu vernehmen. Nicht die Themen erregten die Sinne, sondern die Gedanken, die sie transportierten - und sich damit dem Zellkern beethovenschen Komponierens näherten. Der Gedankenspaziergang auf Saiten und Tasten lud ein zur völligen Hingabe beim Zuhören.
Mit den ersten drei Stücken - "Des Abends", "Aufschwung", "Warum?" - aus Robert Schumanns Fantasiestücken op.12 hatte Giacometti anschließend ein Minimum des Erwartbaren für seinen Solopart ausgesucht, gleichzeitig aber auch ein Maximum dessen, was sich auf der schmalen Grenze zwischen Genuss und Last bei schwüler Sommerhitze und Maskenpflicht bewegt. Die Auswahl bot indes ausreichend Spielraum für den Pianisten, um einen Spielfluss zu zelebrieren, der verblüfft. Scheinbar schwerelos gleitet er über alle Klippen hinweg, tanzt elegant durch die kompositorische Architektur und bringt doch auf den Punkt genau den Anschlag, um Gefühl von Gefühl unterscheidbar zu machen. Er wird dabei so nahbar, dass man sich als Zuhörer fühlt, als säße man neben ihm auf dem Klavierhocker und sei eingeladen, mitzuspielen.
Bei der abschließenden "Sonate für Violoncello und Klavier Nr. 1" von Johannes Brahms bekräftigten die beiden Musiker, dass sie für die Einspielung dieses Werkes zu Recht den Brahms-Preis gewonnen haben - und dass sie das Werk zu Recht an den Schluss gesetzt hatten. Auf Augenhöhe interpretiert und die Gleichrangigkeit der beiden Instrumente perfekt in die Balance gebracht, vermittelte ihre Interpretation ein Gefühl der Endgültigkeit: Wie kann man diese Sonate eigentlich anders spielen? Gerade weil sie sich dabei mit Verve und Freude der Fugen-Idee annahmen, woben sie mit flinken Händen eine Textur, die sich schwerelos um die Sinne legt, und dennoch intensiv Energie verstrahlt. Wer seinen Blick lösen konnte, sah ein von Leidenschaft umgarntes Publikum.
Das pandemiebedingt auf zwei Auftritte geteilte Konzert fand vor vollem Haus statt. Ein Platz blieb jedoch leer, der sonst immer besetzt war - der von Hanspeter Krellmann. Er, dessen fachkundige und mit Detailfreude formulierten Texte für das Publikum der Rathauskonzert stets Inspiration waren, ist Mitte Mai im Alter von 86 Jahren gestorben. Die Sammlung der Programmhefte, deren kundige Sprache und kluge Dramaturgie er über viele Jahre prägte und ihnen Kultstatus verschaffte, wird nun als kostbare Erinnerung unter Musikfreunden weiterleben, die sich nie belehrt, aber stets gern von ihm geführt fühlten. An dem spielerisch wie emotional bewegenden Auftritt des Duos Wispelwey/Giacometti hätte Krellmann seine helle Freude gehabt und seinen Beitrag zum lebhaften, fast schon ungestümen Schlussapplaus gern gegeben.