Der Wahltag im Landkreis:Alarm im Wahllokal

Das Interesse, die Zusammensetzung des Europaparlaments mitzubestimmen, ist im Landkreis größer als sonst. Manchmal wird die Stimmabgabe aufregender als erwartet

Von Johanna Feckl, Ebersberg

Ja, Grias Gott! Tolles Wetter heute, gell? Ja, ja. Und Sie? Haben Sie Ihre Bürgerpflicht schon erledigt? Natürlich! Ein Händeschütteln, ein Lächeln - dann geht es auf einmal los. "Si-u, si-u, si-u- si-u", tönt es grellend vom Eingang der Vaterstettener Grundschule her. Alarm!

Es ist Vormittag an diesem Sonntag, an dem im Landkreis Ebersberg 110 000 Bürger dazu aufgerufen sind, ein neues Europaparlament mitzuwählen. Landauf, landab haben Politiker und Medien dieser Europawahl eine höhere Brisanz zugeschrieben als denjenigen zuvor, von "Schicksalswahl" war die Rede: In zahlreichen EU-Staaten erstarken rechtspopulistische und nationalistische Parteien, die Europäische Union wähnen viele dadurch in Gefahr - das Stimmungsbarometer zeigt auf: "Obacht! Vorsicht! Alarm!"

Beinahe könnte man meinen, dass dieser metaphorische Alarm an der Vaterstettener Grundschule zu einem tatsächlichen geworden ist. Ein Schalter hinter der Eingangstür, grün und orange blickend, er scheint geradezu rufen zu wollen: "Drück mich!" Ein kleiner Bub, höchstens drei Jahre alt, konnte dem nicht widerstehen. Flink entkam er der Hand seines Vaters, lief zu dem Schalter und drückte einmal kräftig dagegen. "Si-u, si-u, si-u- si-u!"

Wenige Flure weiter sitzt Michelino Capezzuto-Zehetmeier dort, wo sonst die Klasse 3d Unterricht hat, auf einem kleinen Stuhl hinter einem kleinen Tisch. "Teilweise sind die da ja eine halbe Stunde drinnen", sagt der CSU-Gemeinderat und nickt mit seinem Kopf in Richtung der fünf Wahlkabinen gegenüber von seinem Platz. "Und bei der Europawahl geht das ja noch, da gibts ja nur einen Wahlzettel!" Seit 17 Jahren hilft Capezzuto-Zehetmeier bei sämtlichen Wahlen in der Gemeinde ehrenamtlich mit. Am Sonntag ist er derjenige in diesem Raum, der aufpasst, dass jeder Wähler nur einen, und zwar den eigenen Stimmzettel in die Wahlurne wirft.

Europawahl in Poing

Während Herrchen sein Kreuz macht, freut sich der Hund schon auf den Sonntagsspaziergang: eine Momentaufnahme aus dem Wahllokal in der Anni-Pickert-Schule in Poing.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

"Mein Eindruck ist, dass heuer mehr Leute da sind als sonst", sagt Capezzuto-Zehetmeier. Gleich morgens um acht Uhr, als das Wahllokal öffnete, habe ein großer Schwung an Vaterstettener Bürgern seine Stimme abgegeben.

Mittlerweile ist es mittags. Auch in Poing herrscht an der Grund- und Mittelschule buntes Treiben. Menschen pilgern den langen Gang im Erdgeschoss der Schule entlang, auf der Suche nach dem richtigen Wahlzimmer. "Heute morgen sah es noch recht mau aus", sagt Renate Karisch. Die Leiterin des Standesamtes koordiniert und organisiert die Wahl des neuen Europaparlaments in Poing, und das nicht zum ersten Mal. Seit den 1980er Jahren übernimmt sie diese Aufgabe bei jeder Wahl. "Ich glaube, das ist jetzt schon meine achte Europawahl", sagt sie und lacht.

Karisch sitzt hinter ihrem Schreibtisch des Wahlleitungszimmers, einige Meter neben ihr stehen drei der insgesamt 84 Wahlhelfer, die in Poing für eine reibungslose Europawahl sorgen. Lange suchen musste Karisch nicht, um so viele Ehrenamtliche zu finden. Im Grunde genommen gebe es eine feste Gruppe an Freiwilligen, "die sind eigentlich bei jeder Wahl hier". Ob das an dem Wunsch liegt, einen Beitrag zu einer funktionierenden Demokratie zu leisten, oder dann doch eher an den Butterbrezen, Krapfen und belegten Semmeln, die es im Wahlleitungszimmer in Hülle und Fülle für die Helfer gibt - das ist ungewiss.

Europawahl in Vaterstetten

Der Wahlzettel ist lang, unter 41 Parteien haben die Wähler - hier in Vaterstetten - die Auswahl.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Gewiss ist jedoch, dass sechs Stunden bevor die Wahllokale schließen schon beinahe so viele Poinger gewählt haben wie bei der Europawahl vor fünf Jahren am gesamten Wahltag: 39 Prozent der Wahlberechtigten haben bis 12 Uhr ihre Stimme bereits abgegeben. Viele gingen dazu in die Wahlkabinen, bei denen in Poing gelbe Vorhänge dafür sorgen, dass die Abstimmung geheim bleibt, noch mehr aber wählten per Briefwahl. Ungefähr 3000 rote Briefwahlumschläge stapeln sich in gelben Boxen neben Renate Karischs Schreibtisch. "Ein paar liegen bestimmt noch bei der Gemeinde und kommen dann am Nachmittag." Bei der vergangenen Europawahl stimmten 43 Prozent der Poinger Wahlberechtigten für eine angetretenen Parteien.

Es sind noch 30 Minuten bis die Wahllokale schließen. In der Ebersberger Grundschule scheint es, als ob es jetzt erst richtig los geht: Die Menschen strömen nur so herbei, um ein Kreuz auf ihren Wahlscheinen zu setzen - und das, obwohl in der Schule Ebersberger aus nur zwei Stimmbezirken wählen können. So kurz bevor es ans endgültige Stimmenzählen geht, scheint zwischen den Wahlhelfern ein Wettkampf entfacht zu sein - wenn auch ein nicht ganz ernst gemeinter. "Könnte knapp werden", sagt ein Helfer. Es steht knapp über 50 Prozent Wahlbeteiligung im Stimmbezirk drei zu 62 Prozent im Stimmbezirk vier. Aber bei letzterem steht die wesentlich kürzere Schlange an Ebersbergern, die noch wählen möchten. Egal, wo es am Ende die größere Beteiligung gegeben haben wird: Es ist mehr als bei der letzten Europawahl. Das Alarmschlagen hat seine Wirkung wohl nicht verfehlt.

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