Als die letzte Lautsprecher-Durchsage in der Poinger Nacht verhallt, steht Anja Orth immer noch da und hält stillen Protest. "Keinen Millimeter nach rechts", steht auf ihrem Schild, vier Worte, die vieles über diesen Abend vor dem Max-Mannheimer-Bürgerhaus sagen. Die 51-Jährige ist gekommen, weil vor einer Woche 150 Meter von hier sogenannte "Querdenker" ihre eigene Situation mit der von Juden im Nationalsozialismus verglichen, dabei auch Begriffe aus dem nationalsozialistischen Jargon verwendet haben. Jeden Donnerstag finden in Poing Corona-Demos statt, es kam schon mehrmals zu rechtsextremen Entgleisungen. "Ich radel dort regelmäßig vorbei und habe mich immer geärgert, dass ich nichts dagegen mache", sagt die Poingerin. Bis zu diesem Tag.
Wie jeden Donnerstag wird in Poing auch diesmal demonstriert, nur dass diesmal zwei Kundgebungen parallel stattfinden. Um den Pavillon mit den Kritikern der Corona-Maßnahmen sind knapp 20 Personen versammelt, manche von ihnen ohne Maske. Deutlich mehr Zulauf hat die Veranstaltung nebenan. Einsatzleiter Martin Schulz zählt 110 Teilnehmer, darunter die Veranstalterin Christina Tarnikas vom Bündnis Respekt@Poing. In ihrer Rede erklärt sie, dass in der Gemeinde "kein Platz ist für Rassismus, Antisemitismus und Nazis, die sich hinter dem Mäntelchen der Querdenker verstecken".
Zu den Demonstranten zählen neben Aktivisten von Bunt statt Braun Ebersberg und "Seite an Seite" auch Poings Bürgermeister Thomas Stark (parteilos). Wie viele hier ist er ausgestattet mit einem zwei Meter langen Band, um eine Idee vom Sicherheitsabstand zu bekommen. Stark erinnert in seiner Ansprache daran, dass in unmittelbarer Nähe vom Treffpunkt der regelmäßigen Donnerstags-Demos jenes Mahnmal steht, das vor elf Jahren zur Erinnerung an die Opfer des Todeszugs von Poing im Zweiten Weltkrieg errichtet wurde. "Und hundert Meter davor wird antisemitisch gehetzt. Das ist nicht akzeptabel", so Stark unter Applaus.
Indes im Lager der kleineren Demo: Einzelne diskutieren mit Polizisten über die Maskenpflicht. Vor einer Woche hatte an dieser Stelle ein Redner gegen Charlotte Knobloch, die Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde, gepöbelt. Knobloch hatte zuvor in der Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus vor der Verharmlosung des Holocausts durch Querdenker gewarnt. Eine Woche später steht nun ein Schild am Ort der Corona-Demo: "Wir pflegen stets den liebevollen Umgang mit allen Menschen. Egal welcher: Hautfarbe, (...), ethnischer Herkunft (...) oder Weltanschauung."
Weil in einem Video von vergangener Woche andere Töne festgehalten sind, erinnert Bürgermeister Stark auf der Gegendemo daran, dass Knobloch 2018 als Ehrengast zur Einweihung des Bürgerhauses nach Poing gekommen war. "Sie ist gerne gekommen", so Stark, "und ich will, dass das auch so bleibt." Schließlich ergreift sein Vorgänger Albert Hingerl (SPD) das Wort. Der langjährige Bürgermeister appelliert dafür, "immer wieder aufzustehen und zu zeigen, für was wir stehen: für Solidarität, Offenheit und dass alle hier in Frieden leben können." Hingerl erklärt, dass Knobloch "eine Freundin ist" und Mannheimer "ein Freund von mir und meiner Familie war".
Anja Orth steht weiter an diesem Ort mit ihrem Schild und den vier Worten. Die Poingerin erzählt von ihrer ganz eigenen Beziehung zu Max Mannheimer. Ihr Ehemann Karl Orth hat das Poinger Mahnmal gestaltet - auch zu Mannheimers Ehren, der den Poinger Todeszug am 27. April 1945 überlebte.