Christoph Lütge und Coronaleugner:"Er hat die Wissenschaft komplett negiert"

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Professor für Wirtschaftsethik an der TU München: Christoph Lütge. (Foto: Sebastian Gabriel)

Bei einer Debatte in Vaterstetten werden Teilnehmer auf dem Podium von Zuschauern beschimpft. Mittendrin der umstrittene TU-Professor Christoph Lütge. Nun geht es auch um die Frage: Hat die VHS den "Querdenkern" eine Bühne geboten?

Von Wieland Bögel, Vaterstetten

Hat die größte Bildungseinrichtung des Landkreises Corona-Leugnern ein Forum geboten und die Gelegenheit, ihre Gegner zu beschimpfen? Dieser Vorwurf steht derzeit im Raum nach einer Podiumsdiskussion zu den ethischen Herausforderungen durch die Pandemie. Dort, so schildern es Teilnehmer wie Zuschauer, soll es zu unschönen Szenen auf dem Podium und Beschimpfungen im begleitenden Internet-Chat gekommen sein. Die Schuld dafür sehen sie hauptsächlich bei einem der Teilnehmer, dem Münchner TU-Professor für Wirtschaftsethik Christoph Lütge - aber es gibt auch Kritik an der VHS selbst.

Lütge ist nicht ganz unumstritten, er war Mitglied des bayerischen Ethikrates, bis zu seiner Demission im Februar. Das bayerische Kabinett, welches für die Besetzung des Ethikrates zuständig ist, berief Lütge ab. Grund dafür war, dass dieser in den Wochen zuvor die Corona-Beschränkungen öffentlich als "völlig überzogen" anmahnte und deren Sinn in Frage stellte, auch im Hinblick auf das ohnehin hohe Alter der meisten Corona-Toten.

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Und genau in diese Richtung hätten sich auch die Beiträge Lütges in der Diskussionsrunde bewegt, kritisiert Diana Stachowitz. Die SPD-Landtagsabgeordnete hatte an dem Abend die Vertretung ihrer Fraktionskollegin aus dem Wahlkreis Ebersberg, Doris Rauscher, übernommen. Dies in dem Glauben, "die VHS hat einen Bildungsauftrag, das ist eine vernünftige Veranstaltung". Was es nach ihren Schilderungen indes nicht gewesen sei, eben wegen Lütge und seinem Diskussionsgebaren.

Dieses, so schildern es neben Stachowitz auch einige Zuschauer des Abends, sei überaus aggressiv gewesen. Er habe weder die Argumente der übrigen Teilnehmer gelten lassen noch sich um eine moderate Kommunikation bemüht. Stachowitz erzählt, wie sie von Lütge ausgelacht worden sei, als sie sich auf wissenschaftliche Studien zur Pandemie bezogen habe: "Er hat die Wissenschaft komplett negiert." Außerdem habe er ihr und der Politik insgesamt vorgeworfen, die Bevölkerung systematisch über die Gefahr von Corona zu belügen, denn das Virus sei gar nicht so schlimm.

Wobei laut Stachowitz Lütges Aussagen oft nur gewissermaßen die Ouvertüre für Aussagen in dem parallel zur Debatte laufenden Live-Chat gewesen waren. "Im Netz ist es dann richtig abgegangen", sagt Stachowitz, demnach sei das gesamte Spektrum der Argumente der Corona-Leugner vertreten gewesen, inklusive der zugehörigen Beleidigungen und Beschimpfungen.

Überprüfen lassen sich diese Vorwürfe derzeit nicht, im Gegensatz zu anderen Veranstaltungen der VHS ist das entsprechende Video samt Kommentaren nicht im Internet zu finden. Beziehungsweise es lässt sich nicht öffnen, mit dem Verweis auf eine Sperrung durch den Urheber.

Was ein anderer Diskussionsteilnehmer ausdrücklich begrüßt: Der Zornedinger Stephan Kruip hat als Mukoviszidose-Patient und damit Angehöriger einer Risikogruppe an der Debatte teilgenommen. Das Video, so sagt er, würde Corona-Verharmlosern eine Bühne bieten, daher sei es gut, so Kruip, dass es nicht mehr verfügbar sei.

Die Vorwürfe von Stachowitz bestätigt Kruip im Grundsatz, auch er hat Lütge in der Diskussion widersprochen und scharfe Reaktionen erhalten: Lütge habe nicht nur keine Gegenargumente gelten lassen, sondern die anderen Teilnehmer auch massiv angegangen, etwa in dem er ihnen Lügen vorwarf. Die Debatte sei darum "eine unangenehme Erfahrung" gewesen. "Eine Diskussion über ethische Herausforderungen der Pandemie war gar nicht möglich, weil Christoph Lütge die einfachsten naturwissenschaftlichen Grundlagen der Pandemie wie zum Beispiel exponentielles Wachstum oder die Wirkung von Kontaktbeschränkungen einfach abstreitet, ohne für seine Behauptungen Belege zu liefern", sagt Kruip.

Doch Lütge ist nicht der Einzige, dessen Verhalten bei der Diskussionsrunde einigen zweifelhaft vorkam. Es gibt auch Vorwürfe gegen VHS-Geschäftsführer Helmut Ertel. Dieser sei seiner Aufgabe als Moderator der Debatte nicht nachgekommen, kritisiert etwa Stachowitz: "Er war nicht neutral und er ist nicht eingeschritten." So habe Lütge seine Angriffe auf die anderen Diskussionsteilnehmer weiterführen können, was dann wiederum im Chat entsprechenden Widerhall gefunden hätte. Stachowitz wirft der VHS darum gewissermaßen Etikettenschwindel vor: "Wenn es eine ,Querdenker'-Veranstaltung werden sollte, hätte es auch so gekennzeichnet werden müssen - dann hätte ich auch nicht teilgenommen." Sie habe sich darüber bei der VHS beschwert, so Stachowitz, und auch eine offizielle Entschuldigung erhalten.

Auch der Moderator ist vom Verlauf der Debatte überrascht

Wie der Moderator diese Sache beurteilt, ist nicht zu erfahren, Ertel selbst möchte sich zu dem Vorfall nicht äußern und verweist auf den Vorstand. Dessen Erster Vorsitzender Peer Frieß räumt unumwunden ein, dass die fragliche Debatte "sukzessive unschöner geworden" sei. Man habe sich für Christoph Lütge als Teilnehmer entschieden, weil man ein weites Meinungsspektrum in der Debatte haben wollte. "Wir wussten, welche Thesen Christoph Lütge vertritt - aber nicht wie." Ebenfalls nicht gerechnet habe man mit den Reaktionen im Internet, im Chat "wurde in einem Ton argumentiert, der nicht das Niveau ist, welches die VHS haben möchte", sagt Frieß. Auch Moderator Ertel habe "mit dieser Art von Debatte offenbar nicht gerechnet". Dass er diese hätte stoppen müssen oder versuchen, sie in geregelte Bahnen zu lenken, sei Ertel im Nachhinein schon klar, weshalb sich dieser und die VHS insgesamt auch in aller Form entschuldigt haben.

Außerdem wolle man bei der Bildungseinrichtung Konsequenzen aus dem Vorfall ziehen, sagt Frieß. Künftig würden Debattenrunden mit "kritischen Themen" von professionellen Moderatoren geleitet, so der VHS-Vorsitzende. Was die Auswahl der Gesprächsteilnehmer angeht, wolle man zwar weiterhin auf "eine möglichst breite Palette zur Thematik" setzen - Christoph Lütge dürfte indes nicht mehr dabei sein. "Ich wüsste nicht, warum wir ihn wieder einladen sollten", sagt Frieß.

Wie Lütge selbst die Diskussionsrunde bei der Vaterstettener VHS erlebt hat, ist leider nicht zu erfahren. Eine entsprechende Anfrage an den Wirtschaftsprofessor blieb unbeantwortet.

© SZ vom 10.06.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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