Beklemmender Klassiker:Lockruf der Fluchttür

"Leonce und Lena" am Theater Wasserburg

In mumienartige Fetzen gewickelt und in Blechbüchsen gefangen hängen die Wasserburger Protagonisten an den Fäden des Maschinisten.

(Foto: Christian Flamm/OH)

"Leonce und Lena" steigen im Theater Wasserburg tief hinab in den Maschinenraum der Psyche. Weitere Vorstellungen an diesem Wochenende

Von Ulrich Pfaffenberger

Die neue Inszenierung von "Leonce und Lena" in Wasserburg hat es in sich. Vom Firlefanz eines Lustspiels befreit, der Irrungen und Wirrungen des Lebens am provinziellen Hofe entschlackt und der komödiantischen Elemente des Themas "Zwangsheirat" entbunden, bringt das Theater Wasserburg nun eine Kompaktversion des Stücks auf die Bühne, die mit dem Klassischen im Klassiker bricht. Sie kondensiert das Werk vielmehr auf die großen Fragen nach der schicksalhaften Vorbestimmung und der Illusion freier Entscheidungen, und dringt dabei so tief in die Gedankenwelt eines Georg Büchner ein, dass es einem Angst und bange wird. Gelacht wird jedenfalls selten während der 80 Minuten Spielzeit.

Es spricht für die schauspielerische Ausdruckskraft, die Sprachkunst und einen wahren Geistesblitz bei Kostüm und Maske, dass es dem Quartett aus Leonce, Valerio, Lena und Gouvernante gelingt, der Individualität zum Durchbruch aus der scheinbaren Gleichheit zu verhelfen. Alle vier sind sie in mumienartige Fetzen gewickelt, allen vieren ist - bis auf etwas Lippenrot - das Geschlecht aus dem Gesicht geschminkt, alle vier sind sie in Blechbüchsen gefangen und wie Puppen an Seile gefesselt, alle vier hängen bei ihrer Position zueinander von Lust und Laune des Maschinisten ab und alle vier haben nur ein bisschen Mimik und ihre Sprache, um zu zeigen, was sie bewegt. Da spielen Regie und Dramaturgie geschickt mit den reduzierten Möglichkeiten des Stücks, ohne der Versuchung zu verfallen, dessen szenische Beschränktheit durch ein Eiapopeia-Herzschmerz-Kostümfest auszugleichen.

Gerade im Kontrast der hellen Figürchen zum bedrohlichen Metall und Schwarz des Maschinenraums und seines strippenziehenden Beherrschers verwandelt sich der Raum, im dem sich "Leonce und Lena" bewegen, in jenen bedrohlich saugenden Abgrund, den man Büchner viel eher zutraut als ein Gartenlauben-Idyll. Die klangliche Dominante des Zischens, Quietschens und Knurrens der Mechanik liefert dabei ein beklemmendes Grundrauschen, aus dem sich Schauspieler wie Publikum nicht befreien können, ja, mehr noch, so eng darin eingepackt sind, dass selbst gelegentliches Vogelzwitschern und fröhliche Bühnenmusik-Schnipsel wie ein verglühender Irrtum wirken. Augenblicke vergeblicher Hoffnung, vom Dunkel des Raums verschluckt, bevor sie ein kleines Licht der Zuversicht hätten entzünden können.

Einmal mehr zeigt das Wasserburger Theater eine überzeugend geschlossene Ensembleleistung. Das reicht so weit, dass die durchgängige Besetzung aller Rollen mit Schauspielerinnen sich für die Balance von Text und Botschaft eher förderlich auswirkt, als dass sie irritiert. Susan Hecker als Maschinist, Magdalena Müller als Valerio und Annett Segerer als Leonce entfernen aus Büchners Worten genauso die geschlechtsspezifischen Untertöne wie Amelie Heiler als Lena und Regina Alma Semmler als Gouvernante. Hier gibt es keine Männchen und keine Weibchen, hier gibt es nur Menschen mit Sehnsüchten, Träumen, Ängsten und Sorgen. Auch wenn mancher satirisch-ironische Wortbeitrag ein Glucksen und Raunen im Publikum auslöst: Eine Komödie ist diese Aufführung nicht, und als Lustspiel neigt sie schon mehr den Schmerzen zu, die aus unvernünftiger Lust entstehen, als deren flüchtigem Vergnügen.

Besuchern der Aufführung sei geraten, gut ausgeruht sowie mit aufgeräumtem Geist und durchlüftetem Gemüt nach Wasserburg zu kommen. Die spezifische Dichte Büchnerscher Wortkunst ist so hoch, dass sie nicht en passant anzunehmen, geschweige denn zu genießen ist. Kein Satz, der nicht schon für sich allein dazu gereichte, ein philosophisches Seminar anzustoßen, kein Dialog, in dem nicht sinntiefe und bezugsreiche Botschaften ihre Klingen kreuzten. Der Raum, den Regisseur Uwe Bertram der Wort- und Gedankengewalt des Autors gibt und den sein Ensemble mit exquisiter Sprechkultur füllt, ist sehr groß. Umso leichter kann man sich darin verlieren, wenn man dem revolutionären Umgang Büchners mit der Sinnsuche der Menschen entfliehen wollte.

Damals gab es für Zwangsverliebte keine realistische Fluchtchance nach Italien, heute sind für Zwangsamüsierte verlockende Fluchttüren zu Facebook oder Youtube, ins Fitness-Center oder zum Shopping ebenfalls Illusion. Alle sind wir, gestern wie heute, gefangen im großen, finsteren Maschinenraum unserer Psyche - und in der Illusion, wir könnten uns leicht und unbefangen daraus befreien. Welch grandioser Irrtum, welch grausiger Albtraum. Aus dessen Umklammerung sich das Premierenpublikum im vollbesetzten Wasserburger Haus zum Schlussapplaus zunächst nur schwer lösen konnte - bevor es seiner jubelnden Begeisterung freien Lauf ließ.

"Leonce und Lena" am Theater Wasserburg, weitere Aufführungen am 22./23./24., 29./30.31. März; 4./5./6., 12./13. April. Beginn ist donnerstags, freitags und samstags um 20 Uhr, sonntags um 19 Uhr. Karten gibt es unter www.theaterwasserburg.de

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