Beeindruckendes Experiment:Abgesang auf die Freiheit

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.Das Meta Theater führt Bulat Atabayevs beklemmende Regiearbeit "Lawine" in kasachischer Sprache auf. Thema der satirischen Parabel ist die politische Situation im Land

Rita Baedeker

Moosach Sechs Decken liegen auf der Bühne des Meta Theaters in Moosach. Sie bilden die Ausstattung des Stücks, sie dienen als Gebetsteppich, Kostüm und Kulisse. Die eine Seite ist rotbunt gemustert wie eine alte Webarbeit, ein Sinnbild für dörfliche Traditionen. Die Rückseite dagegen ist braun-oliv gefleckt wie ein militärischer Tarnanzug und kündet von Kampf und soldatischem Gehorsam. Für die Schauspieler des Theaters Aksaray aus Almaty in Kasachstan sind die Decken eine Art zweiter Haut, in die sie sich hüllen. Mal bieten sie symbolischen Schutz vor der Obrigkeit, mal, von den Schauspielern als "Mauer" in die Höhe gehalten, verkörpern sie die Macht der Apparatschiks, versinnbildlichen aber auch den Rückzug des Menschen in ein unterwürfiges Dasein.

In dem Stück "Lawine" des türkischen Autors Cuncer Cücenoglu geht es um Angst - vordergründig um die Angst vor einer Lawine. Die Handlung geht zurück auf eine möglicherweise wahre Geschichte. Aus Angst vor einer Lawine, die jeden Augenblick zu Tal stürzen könnte, verharren die Bewohner eines anatolischen Bergdorfs neun Monate im Jahr in einer Art Lähmung. Sie sprechen im Flüsterton miteinander, verkneifen sich Lachen, Singen und Feiern. Wer die Stille stört, so wurde ihnen mitgeteilt, dem droht der Tod. Auch ist es verboten, während dieser Zeit ein Kind zur Welt zu bringen, sein Schrei könnte die Lawine auslösen. Zumindest behaupten das die Dorfältesten. Als doch ein Baby geboren wird, bleibt die Katastrophe aus, die Dörfler begreifen, dass die Lawinengefahr eine Projektion ihrer Angst ist, instrumentalisiert von skrupellosen Machthabern.

Im türkischen Original wird die junge Frau, die zur falschen Zeit niederkommt, lebendig begraben. Der kasachische Regisseur Bulat Atabayev hat das Stück zwar nicht umgeschrieben, aber umgemünzt in eine Parabel auf die Zustände in seiner Heimat, wo eine nach außen sich demokratisch gebärdende Herrscherfamilie mit Härte und Willkür regiert. Gewidmet ist das Stück, das an zwei Abenden im Meta Theater aufgeführt wurde, jenen "Namenlosen, die keine Lobby haben", wie Atabayev sagt, insbesondere den kasachischen Ölarbeitern, deren friedlicher Streik 2011 blutig niedergeschlagen wurde. Trotz des ernsten Hintergrunds plädiert der Regisseur, dem bei einer Rückkehr erneute Verhaftung drohen würde, für Humor. "Wenn Sie lachen möchten, lachen Sie. Das Lachen ist eine Waffe gegen die Angst."

Zunächst aber herrscht im voll besetzten Theaterraum absolute Stille, man hört jeden Atemzug, man hört das Kratzen des Scheinwerfers, der beim Schwenk leise an der Decke entlang schabt und seinen Lichtkegel über die Bühne wandern lässt. Dort beten verängstigte Menschen zu Allah. Das Stück wird in kasachischer Sprache aufgeführt. Gesprochen wird aber zunächst gar nicht, die Darsteller husten, schnauben, seufzen, schnarchen; sie erzeugen jene wunderlichen Geräusche, die Menschen entfahren, wenn sie schlafen oder sich unbeobachtet fühlen. Ein Flüstern hebt an, eine der Frauen hält sich den Bauch, beschreibt mit den Händen, wie ihr Leib anschwillt. Eine andere reibt ihr Knie mit schmerzverzerrter Miene. Alle Bewegungen werden langsam ausgeführt, Gefühle nur angedeutet, nicht ausgelebt.

Als die Darsteller schließlich zu reden beginnen in ihrer melodischen Sprache, die viel weicher klingt als Russisch, wird gelacht. Es sind zahlreiche kasachische Zuschauer gekommen, die sich über den Besuch aus der Heimat freuen. Die anderen, die kein Wort verstehen, orientieren sich an der mimischen Kunst des Ensembles. Die Schauspieler spielen holzschnittartig und gestenreich mit ausdrucksvoller Körpersprache. Zum Beispiel als ein Mann eine Beichte ablegt; er hat seinen Bruder verraten, der es wagte, unbequeme Fragen nach der Lawine zu stellen. Gesenkter Kopf, Leichenbittermiene, eingezogene Schultern, ein An- und Abschwellen des Tonfalls. Die Gestalt des reuigen Sünders, sie ist in jeder Sprache gleich.

Als sich die unpassende Schwangerschaft nicht länger verheimlichen lässt, wird die Hebamme gerufen; aus einer glitzernden Tüte klaubt sie Knochen und veranstaltet allerlei Hexenzauber, um den Geburtstermin zu verschieben in jene drei gefahrlosen Monate, in denen gelebt und geboren werden darf. Schließlich kommen auch noch Soldaten. In ihren viel zu großen Jacken, die es erlauben, wie Schildkröten Kopf und Hals einzuziehen, wenn's brenzlig wird, und mit ihren roten Kappen bieten sie einen grotesken Anblick.

Als das Baby geboren wird und den ersten Schrei (vom Band) tut, starren alle in Erwartung der Katastrophe wie versteinert in die Höhe. Natürlich geschieht nichts. Das Dorf bleibt unversehrt; doch statt sich zu befreien, kuschen die Bewohner erneut vor der Glocke, die zum Zeichen der Unterwerfung geschlagen wird . . . Und es erklingt "Wanderers Nachtlied", gesungen in kasachischer Sprache. Hier ist es allerdings als Abgesang auf die Freiheit gemeint: "Warte nur, bald ruhest du auch!"

"Unsere Zivilgesellschaft wird nicht wach", sagt Atabayev in seinem Epilog und ruft die westlichen Gesellschaften, auch die deutsche Bundesregierung auf, nicht länger mit Diktatoren zusammenzuarbeiten und bei Verträgen auf die Einhaltung der Menschenrechte zu achten. Über Kasachstan sagt er, dies sei das Land der ewig grünen Tomaten. "Wir werden nie reif."

Dass die Truppe aus Almaty nicht nur hinreißend Theater spielen, sondern auch singen kann, demonstriert sie schließlich mit ein paar Liedern - eines ist den politisch verfolgten Freunden im Gefängnis gewidmet, eines kommt aus Russland, ein weiteres, bei dem eine Sängerin sich als stimmgewaltige Queen of Soul outet, aus Afrika. Und eines heißt "Im grünen Wald" und ist ein deutsches Volkslied. Die jungen Leute singen es mit Inbrunst. Bulat Atabayev allerdings wundert sich: Er habe erfahren, dass die Deutschen ihre eigenen Lieder nicht mögen. Er könne das nicht verstehen. Singen ist für ihn ein Stück Freiheit. Manchmal löst es sogar Lawinen im Kopf.

© SZ vom 20.03.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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