Bayern:Wenn ein Familienstreit ein Dorf spaltet

Bayern: Fast wie beim Haberfeldtreiben: Im Januar 2015 ging das halbe Dorf auf die Barrikaden.

Fast wie beim Haberfeldtreiben: Im Januar 2015 ging das halbe Dorf auf die Barrikaden.

  • Ein Jahr nach der spektakulären Zwangsräumung einer Familie in Oberbayern ist der Ort Gersdorf in zwei Lager gespalten.
  • Die Mutter hatte ihren Sohn mit seiner Familie vom Hof geklagt.
  • Aus Protest zog das halbe Dorf mit Fackeln und Traktoren vor den Hof.

Von Korbinian Eisenberger, Frauenneuharting

Hinter der Holztür in einem Haus am Ortsrand brodelt das Wasser auf dem Herd. Die Fenster sind zugehängt, aus einem Zimmer tönt Radiogedudel. Bis vor einem Jahr, sagt Sonja Weber, sei sie oft mit Freunden am Küchentisch gesessen. Jetzt hocken dort ihre Großmutter und ihre Tante. "Viele sind mittlerweile lieber in der eigenen Stube als im Ort", sagt die Großmutter. "Das Dorf hat sich verändert", sagt Sonja Weber. Im Hausgang ist es warm, die Familie hat eingeheizt. Weber ruft die beiden Hunde rein, dann schließt sie die Haustür. "Damit die Kälte draußen bleibt", sagt sie.

Gersdorf ist eines dieser Örtchen, von denen es in Bayern wahrscheinlich Hunderte gibt. Ein paar alte Bauernhäuser, Dachgiebel mit Hirschgeweihen, es riecht nach frisch gemolkener Milch und ein bisschen nach Kuhmist. Gersdorf ist ein ganz normales Bauerndorf, könnte man sagen, doch dann würde einem Sonja Weber widersprechen.

Klar, lange sei das so gewesen, sagt sie, bis vor einem Jahr sei sie mit ihren Hunden täglich über die Straße spaziert, rüber auf die Ostseite, vorbei an dem Gehöft, das sie in Gersdorf nur den Ruinhof nennen. Doch durchs Dorf, sagt Weber, sei sie schon länger nicht mehr spaziert. "Nicht, nach dem, was letztes Jahr passiert ist", sagt sie.

Szenen einer Bauerntragödie

Dort, wo an diesem Vormittag der Regen die Felder durchweicht, spielten sich im Frühjahr 2015 Szenen wie in einer Bauerntragödie ab - nur dass es kein Schauspiel war, sondern bitterer Ernst. Menschen aus der ganzen Region zogen mit Mistgabeln und brennenden Fackeln durch den Ort und belagerten tagelang einen Bauernhof am Ortsrand. Mitten in Oberbayern war ein jahrzehntelanger Familienstreit in einer Art Dorfkrieg eskaliert.

Eine Bauersfrau hatte ihren Sohn, den Jungbauern, samt Ehefrau und Kindern aus dem Hof geklagt. Nachbarn solidarisierten sich mit den Jungbauern und starteten eine Unterschriftenaktion. Zeitungen, Radio und Fernsehen berichteten über den Fall, ehe eine Delegation aus Landes- und Bundespolitikern daran scheiterte, den Streit zu schlichten. Am 14. Januar 2015 wurden die Jungbauern schließlich zwangsgeräumt.

"Unser Dorf ist seitdem wie ausgestorben", sagt Traudl Frei. Früher seien die Kinder an ihrem Haus vorbei zum Schulbus geschlendert. "Heute fährt höchstens noch ein Auto vorbei", sagt sie. Positionieren will sie sich nicht, nicht öffentlich. Im Dorf weiß eh jeder von jedem. Wer zu wem hält und wer gegen einen ist.

Bayern: Ein Jahr danach: Rund um den Ruinhof im oberbayerischen Gersdorf sind jetzt Überwachungskameras installiert.

Ein Jahr danach: Rund um den Ruinhof im oberbayerischen Gersdorf sind jetzt Überwachungskameras installiert.

(Foto: Photographie Peter Hinz-Rosin)

"Es gibt Leute, da wechsle ich an der Kasse die Schlange."

Ihre Nachbarin Annemarie Weber, 75, war bei den Protesten dabei. Früher, sagt sie, kamen die Gersdorfer Frauen am 1. Mai zusammen, hätten Sträucher an der Kapelle gepflanzt, am Abend gab es immer ein großes Fest. Jetzt treffe man sich nur noch zum Rosenkranz und im Dorfladen des Nachbarorts. "Es gibt Leute", sagt sie, "da wechsle ich an der Kasse die Schlange."

Die Straße runter, ein paar Häuser weiter scharren die Kühe mit den Hufen. Der Stall gehört zu einem der Höfe, die in Gersdorf noch bewirtschaftet sind. Bäuerin Maria Gschwendtner hat ihr Auto in der Garage abgestellt, sie schickt die Kinder mit ihren Schulranzen ins Haus. Für sie waren die Proteste eine Form von Haberfeldtreiben, sagt Gschwendtner, ihr Traktor blieb damals in der Garage, als etwa hundert Bauern sich mit ihren Fahrzeugen vor dem Hof versammelten und protestierten und Plakate aufhängten. "Zu einem Streit gehören immer zwei", sagt sie. Gschwendtner heißt eigentlich anders, ihren echten Namen will sie lieber nicht in der Zeitung lesen. Nicht, dass auch vor ihrem Hof Banner mit Drohungen aufgehängt werden.

Die Beschimpfungen auf dem Grundstück seiner Schwägerin sind mittlerweile verschwunden. Peter Forstmaier, Bruder des Altbauern und Onkel des Jungbauern, wohnt direkt nebenan, bekam von den Belagerungen alles mit. Was in seiner Familie als Hofstreit begann, empfindet der 80-Jährige mittlerweile "als Riss, der das ganze Dorf entzweit hat". Schlimm sei das für den Ort.

"Für mich fühlt es sich an, als hätte ich dazu noch zwei Familienteile verloren", sagt Peter Forstmaier. Seinen Bruder, den Altbauern, bekomme er seit einem Jahr nicht mehr zu Gesicht, seinen Neffen, den Jungbauern, habe er zuletzt an Weihnachten gesehen. "Ich verstehe nicht, warum so etwas passieren konnte", fragt er sich.

So geht es der Familie heute

Familie Forstmaier in Unterreit Gars am Inn in ihrer neuen Wohnung

Die Jungbauern-Familie in Unterreit Gars am Inn in ihrer neuen Behausung: Hans, Elisabeth (Mitte) und Rosi Forstmaier.

(Foto: Korbinian Eisenberger)

Peter Forstmaier ist nicht der erste, den diese Frage umtreibt. Ganze Schriftsteller-Generationen haben versucht, die Niederungen des bäuerlichen Lebens darzustellen und zu ergründen. Die Bibliotheken sind voll mit Bauerntragödien, die von erschlagenen Hofbesitzern, zerstörten Bauernhäusern und vertriebenen Erben erzählen.

Der Dramaturg Ludwig Anzengruber schilderte in seinen Geschichten, wie eng das bäuerliche Familienleben mit dem Dorfgeschehen schon damals zusammen hing. In seinem bekanntesten Werk, "Der Schandfleck", beschreibt er ein Familien- und Liebesdrama, bei dem eine Bauerstochter schließlich aus dem elterlichen Hof flüchtet, als das Gerede im Dorf immer unerträglicher für sie wird.

Dass Bauernbetriebe bis heute durch Familienstreitereien zugrunde gehen, ist für den Historiker Johann Kirchinger die Folge einer gesellschaftlichen Entwicklung. Kirchinger, Dozent an der Universität Regensburg, hat das bäuerliche Leben seit dem frühen 19. Jahrhundert untersucht - dem Zeitpunkt, als die Industrialisierung begann und Frauen in bürgerlichen Familien zunehmend zu Hause blieben und sich um Kinder und Haushalt kümmerten.

"Der Mann ging zur Arbeit, und die Frau musste dafür sorgen, dass zu Hause gute Stimmung herrschte", sagt Kirchinger. "Das Fatale daran war, dass dieses Phänomen auch auf die Bauernhöfe übertragen wurde". Bäuerinnen seien dadurch zu Vollzeitarbeitern geworden und mussten zugleich die Kinder und Ehemänner bei Laune halten. "Damit hat man die bäuerliche Frau bis heute überfordert", stellt Kirchinger fest. Oft habe sich das auf die ganze Familie ausgewirkt.

Wie es dem Jungbauern geht

Fast auf den Tag genau ein Jahr ist es her, dass Rosi Forstmaier unter Aufsicht des Ordnungsamts die letzten Möbel, den Hahn und die Hühner vom Hof abholen musste. Jetzt sitzt sie in der 40 Kilometer entfernten Ortschaft Unterreit am Tisch eines altes Steinhauses, für das ihr Mann einen Kredit aufgenommen hat.

Die 40-Jährige trägt eine helle Bluse und Ohrringe, vor dem Haus hat sie ein Gemüsebeet angelegt. Ihr neues Zuhause? "Es fühlt sich immer noch fremd an", sagt sie. Eigentlich würde sie lieber über Kuhherden und weite Felder reden. So wie ein Biobauer aus Grafing, ein Kollege, der kürzlich in der Zeitung stand, weil er den Familienbetrieb seiner Eltern übernommen und zum Biohof umfunktioniert hat.

"Hör auf", sagt Hans Forstmaier. Für ihn sei der Fall mit der Hofübernahme erledigt, sagt er. Die Fotos, auf denen seine Mutter und die Schwestern zu sehen sind, hat er aussortiert. Der 46-Jährige stützt sich mit seinen tellergroßen Händen am Tisch auf, das Hemd spannt über seine Oberarme.

25 Jahre war er der Chef auf dem Hof, jetzt arbeiten er und seine Frau auf Bauernbetrieben in der Region, erzählt Forstmaier. Ein gequältes Lächeln. Nein, wirklich, das mit seinem Hof sei vorbei, die Kühe geschlachtet, die Maschinen größtenteils verkauft. Und das mit seiner Mutter? Kein Wort gewechselt, seit einem Jahr. Nur die aussortierten Fotos, sagt Forstmaier leise, die habe er aufgehoben.

Wie es der Mutter geht

Am Ortsrand von Gersdorf steht er, der Ruinhof, 500 Jahre alt. Er steht da wie immer, nur dass jetzt keine Hühner mehr auf der Wiese vor der Eingangstür gackern und kein Bulldog auf der Wiese parkt. Gertraud Forstmaier, die Altbäuerin, wohnt jetzt hier alleine mit ihrem Mann. Für den 83-Jährigen, der seit einem Arbeitsunfall behindert ist, habe sie ein behindertengerechtes Bad einrichten lassen, sagt sie. Ihm gehe es besser als vor den Vorfällen vor einem Jahr.

Und ihr selbst auch. Die 69-Jährige erzählt das am Telefon, keine Besuche von Fremden mehr, nach den Drohungen und Beschimpfungen. Das Obergeschoss, in dem ihr Sohn und die Kinder wohnten, habe sie vermietet, die Felder verpachtet, den Großteil der Kühe und Kälber an den Schlachter verkauft. Der Stall ist leer, die Melkschläuche abmontiert - die Mauern des Ruinhofs sind mit Überwachungskameras abgesichert.

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