Süddeutsche Zeitung

Im Landkreis Ebersberg:Spagat über dem Abgrund

Freizeit, Sport, Bildung? Ballettschulen haben es wegen einer unklaren Einordnung schwer. Zwei Leiterinnen aus Vaterstetten und Ebersberg unterstützen daher eine Petition.

Von Alexandra Leuthner

Balletttänzer sollen fliegen, Leichtigkeit, und Eleganz ausstrahlen, den Rhythmus der Musik aufnehmen und in fließende Bewegung umsetzen. Man denke an die Grazilität der Tänzerinnen bei Tschaikowskyy "Schneeflockenwalzer" oder die Pirouetten des schwarzen Schwans. "Man braucht Kraft, aber sehen darf man sie nicht", sagt Alexandra Fleischer-Rushing, Inhaberin der Ballettschule "Dancing Feet" in Ebersberg.

So ist es ein nicht ganz einfacher Spagat, den professionelle Tänzerinnen und Tänzer auf Theaterbühnen hinbekommen müssen. Noch schwieriger aber ist das Kunststück, an dem sich die Ballettschulen in der Coronazeit versucht haben: nicht unterzugehen. So gesehen teilen sie das Schicksal vieler Einrichtungen wie Sportvereine, Theater, Gaststätten, Konzerthallen oder Volkshochschulen, die wiederholt über Monate schließen mussten. Der Fall der Ballettschulen aber hat eine besondere Komponente: Es ist - zumindest nach Einschätzung des Gesetzgebers - nicht klar, zu welcher Gruppe sie eigentlich gehören. Je nach Bundesland oder sogar Landkreis wird das unterschiedlich gehandhabt, was sowohl für mögliche Öffnungen der Schulen in Lockdownphasen negative Folgen hatte, als auch im Hinblick auf staatliche Unterstützung. "Für die einen sind wir Sport, für die anderen Freizeit", klagt Vera Würfl, Inhaberin des Ballettstudios Baldham. Sie und ihre Ebersberger Kollegin Fleischer-Rushing sehen sich aber weder in der einen, noch in der anderen Kategorie, sondern möchten als außerschulische Bildungsstätten anerkannt werden. Sie haben daher eine Petition unterzeichnet, mit der sich Vertreter von 53 Schulen für künstlerischen Tanz in Bayern an den Landtag gewandt haben und in der Bühnentanz der Darstellenden Kunst zugeordnet wird. Unterstützt wird die Initiative vom Deutschen Berufsverband für Tanzpädagogik (DBfT). Der Antrag ging auch an Bernd Sibler, Staatsminister für Wissenschaft und Kunst. "Im Herbst haben wir einen Gesprächstermin mit ihm", berichtet Ludwig Sinzinger.

Sinzinger ist Geschäftsführer von vier Ballettschulen unter anderem in Gauting und Planegg, gehört zu den Initiatoren der Petition, die einem nicht erst in der Corona-Pandemie empfundenen Unbehagen in den Reihen der Ballettschulverantwortlichen Abhilfe schaffen soll. Die Petition könnte Auftakt zu einer Strukturveränderung der Ballettausbildung in Bayern sein, hofft Sinzinger. "Um den Bühnentanz als Kunstform zu retten und auch nach der Coronakrise zu bewahren, benötigen die Schulen (...) konkrete Aufbauhilfen."

Worum geht es? Das Problem ist vielschichtig und beginnt schon damit, dass "Balletttänzer" in Deutschland keine geschützte Berufsbezeichnung ist, aber die Ausbildung der Künstler bis zur Bühnenreife einen frühen Ausbildungsbeginn erfordert. "Bei uns fangen die Kinder mit vier Jahren an, da sieht man schon, wer ein Talent ist. Wenn man sie aber nicht fördert, dann hören sie auf", erläutert Tanzlehrerin Würfl, die einen Diplomabschluss als staatlich anerkannte Balletttänzerin hat und 15 Jahre am Münchner Gärtnerplatztheater tanzte. Klassisches Ballett werde oft zum Leistungssport gezählt, von den körperlichen Anforderungen sei es etwa dem Turnen vergleichbar, -"aber deshalb ist es noch lange kein Sport", so Würfl. Kunst- und Musikverständnis gehörten ebenfalls zur Ausbildung, erste Grundbegriffe der Musiktheorie und spezielle Fachtermini würden schon in den frühen Ausbildungsjahren vermittelt, erläutert Sinzinger. Viele professionell orientierte Ballettschulen unterrichten wie Würfl und Fleischer-Rushing nach den Prinzipien der Londoner Royal Academy of Dance (RAD), eine Ausbildung, die neben der russischen Waganowa-Methode einen der klassischen Wege zur Bühnenreife darstellt. Zu den RAD- Grundsätzen - nach denen weltweit eine Viertel Million Schüler ausgebildet werden -, gehört es, Kinder aus entwicklungsphysiologischen Gründen nicht vor dem zwölften Geburtstag auf die Spitze zu stellen. In einer genau definierten Ausbildungsordnung absolvierte Prüfungen bringen den Schülern Wertungspunkte, die in London aufgelistet werden und ihnen ermöglichen, zu Ballettschulen anderer Länder zu wechseln, aber auch an anerkannten Hochschulen in die endgültige Berufsausbildung einzutreten. "Wir unterrichten nach Lehrplänen, nach einem Klassensystem", so Würfl.

All das mache die Ballettschulen zu berufsvorbereitenden Einrichtungen - und das nicht erst für Jugendliche ab 16 Jahren, für die in der Pandemie Öffnungsmöglichkeiten angeboten wurden. Mit 16 Jahren oder gar nach dem Abitur werde niemand mehr Balletttänzer, betonen die Lehrer. Schon für Zehn- bis Zwölfjährige sei es im Grunde zu spät, erklärt Fleischer-Rushing, die ebenfalls lang am Theater getanzt hat. Die Muskeln müssten früh aufgebaut, die Schwungkraft entwickelt, Dehnungen von klein auf geübt werden. "Wenn Sie heute an einem Opernhaus vortanzen, dann ist die Konkurrenz international, da hat nur eine Chance, wer früh angefangen hat", stellt Sinzinger fest. Es gebe zwar Ballettschulen mit eher freizeitorientierter Einstellung, aber eben auch extrem ausbildungsorientierte, "und dazwischen alle Nuancen. Was wir nicht haben, ist ein Register, das uns nach exakten Kriterien einordnet." In der Pandemie hätten Kadersportler trainieren dürfen, aber man hat es nicht geschafft, den Tanzschülern, die eine Profikarriere einschlagen wollen, die Möglichkeit zum Training zu geben."

Tatsächlich gälten Ballettschulen zwar steuerrechtlich als Schulen und seien als solche umsatzsteuerbefreit, im Hinblick auf Schließungen aber habe es diese klare Kategorisierung nicht gegeben, weshalb sie mit völlig unterschiedlichen Maßnahmen der Behörden umgehen mussten. "Wir haben uns an alle Hygienevorgaben gehalten, aus 1,50 Meter Abstand zwei Meter gemacht, aus einem Quadratmeter Platz im Raum fünf, wir haben Luftfilter und getrennte Zugangswege für die Klassen", erzählt Würfl. Genützt habe das nichts. "Die Politik hat die Einordnung den Landratsämtern überlassen, ich kann verstehen, dass die sich damit schwer tun", so Sinzinger. So wurden Ballettschulen in manchen bayerischen Landkreisen als Bildungseinrichtungen anerkannt, in anderen aber nicht, berichtet Würfl und verweist auf Baden-Württemberg, wo eine Einordnung im Sinne der Schulen als Reaktion auf eine ähnliche Initiative wie die Ende Mai eingereichte bayerische Landtagspetition getroffen worden ist.

In Bayern warten die Verantwortlichen jetzt gespannt darauf, was bei den Beratungen des zuständigen Ausschusses für Gesundheit und Pflege herauskommt. Sinzinger befürchtet, die Angelegenheit könnte auf die lange Bank geschoben werden, in der Hoffnung, dass mit dem Ende der Pandemie keine Entscheidung getroffen werden müsse. Der Status der Ballettschulen aber müsse grundsätzlich geklärt werden. "Wir sind sehr, sehr müde, herumgeschubst zu werden", sagt Würfl, "von der Politik, vom Gesundheitsamt, die dann doch alle nicht helfen."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5325982
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 19.06.2021
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.