Bahnunfall bei Aßling:"Ich war gerade bei der Apokalypse"

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Der Münchner Wolfgang Weidner und seine Bibel im Meridian auf seinem Platz an einem der Fenster, das der Baum demolierte. (Foto: Josef Eisenberger)

Nahe Aßling rast ein Meridian mit 170 Passagieren in einen umgestürzten Baum und muss evakuiert werden. Über die Menschen hinter den Zugtüren zwischen Termindruck, Hitzeschock und Bibel-Lektüre.

Von Korbinian Eisenberger, Aßling

Als es krachte, saß Wolfgang Weidner an einem Fensterplatz mit Tisch und las in seiner Bibel. Der 70-Jährige nahm diesen Zug, um sich in Teisendorf ein Auto zu kaufen. Es stand dort für ihn bereit, weil es ihm reicht, wie er später erzählt: "Die Ausfälle und Verspätungen der S-Bahn in der Region um München." Also saß er nun in diesem Zug, die Bibel aufgeschlagen. "Ich war gerade bei der Apokalypse", sagt er und kann es selbst kaum glauben, dass in diesem Moment das Unglück passierte. Erst ein gewaltiges Scheppern, Sekunden später zerbarst das Fenster neben seinem linken Arm.

Weidner ist wie die meisten Passagiere des Meridian 79019 mit dem Schrecken davon gekommen. 170 Passagiere sitzen am Mittwochmittag um kurz vor eins im Zug von München Hauptbahnhof nach Freilassing, als die Lok mit etwa 120 Kilometer pro Stunde gegen einen Baum kracht, der quer über dem Gleis liegt. Die Lok spaltet den Stamm, sodass die Bruchstelle an der Außenwand des Zugs Fenster zersplittern lässt. Weil der Zug doppelt verglast ist, kommen die Passagiere nicht mit dem Stamm in Berührung. Wie die Bahn bestätigt, bleiben Mitfahrer und Besatzung unverletzt. Und dennoch braucht es einen Krankenwagen.

Die Aufräumarbeiten am Mittwoch nach dem Unfall. (Foto: Privat)

Mittwochnachmittag, kurz nach 14 Uhr, die Sonne schiebt sich hinter Wolken hervor. Auf der Bahnstrecke bei Aßling räumen Männer in Warnwesten die letzten Baumreste vom Gleis, Meter hinter dem Zugende. Drinnen sind 170 Menschen gefangen, die Türen bleiben zu, aus Sicherheitsgründen solle niemand den Zug verlassen, so die Lautsprecherdurchsage. Da kracht es zum zweiten Mal.

Diesmal ist es ein Knall zwischen zwei Waggons im Dachbereich. Nun ist klar, dass dieser Zug vorerst nicht mehr fahren kann. Ein Defekt an der Elektronik, so ist es am Streckenrand zu vernehmen. Drin im Zug spielen sich währenddessen die kleinen Geschichten des Bahnfahrens ab.

Durchs Kippfenster ist zu erfahren, wie die Menschen im hinteren Zugteil den Stillstand verkraften. Ein junger Mann wird immer nervöser, weil er zu diesem Zeitpunkt bereits in einem Büro in Traunstein hocken sollte, um dort einen neuen Arbeitsvertrag zu unterschreiben. Statt mit dem Abteilungsleiter im Büro sitzt er nun in einem Abteil mit einem, der gerade seinerseits den Termin beim Autotandler verschiebt. Wolfgang Weidner, der von der Bahn auf einen Citroën umsteigt.

Um 14.55 Uhr hält ein zweiter Meridian auf dem freien Gleis: Die Evakuierung beginnt. Über eine entfaltbare Brücke geht es direkt vom beschädigten in den neuen Zug. Menschen mit Koffern, Kinderwagen, Rucksäcken, einige mit Schweiß auf der Stirn. Da bricht im hinteren Zugteil eine Frau zusammen. Zwei Passagiere, eine Frau aus Grassau und ein junger Mann aus Traunstein, leisten erste Hilfe, Bahnmitarbeiter rufen den Notarzt. Der Sanitäter stellt einen "Hitzeschock" bei der Frau fest. Während die anderen Fahrgäste im Ersatzzug nach Rosenheim gebracht werden, wird die Patientin im Krankenwagen in die Ebersberger Kreisklinik gefahren.

Eine Aufnahme von der Evakuierung am Mittwoch gegen 15 Uhr. (Foto: Christian Endt)

Wie kam es auf gerader Strecke zu diesem Unfall?

Wie von mehreren Passagieren zu erfahren ist, hatte es am Nachmittag kurz vor der Evakuierung knapp 30 Grad im Zug. Ein Mann von der Freiwilligen Feuerwehr Saaldorf saß offenbar mit im Abteil, als die Frau kollabierte. "Die Mitarbeiter im Meridian haben vorbildlich gehandelt und nach Meldung des Vorfalls zumindest zwei Türen geöffnet", teilt er per E-Mail mit. Er wunderte sich aber "warum bei einer längeren Zughavarie mit langen Wartezeiten bei hohen Temperaturen Rettungskräfte nicht präventiv vor Ort sind".

Nachfrage in der Zentrale des Meridian in Holzkirchen. Dort teilt der Pressesprecher mit, dass es nicht üblich sei, den Notarzt zu alarmieren, wenn bei einem Zugstillstand keine Meldungen über Verletzte oder Kranke vorliegen. Präventivmaßnahmen seien in solchen Fällen "kein gängiges Prozedere".

Die Lok des Meridians am Mittwochnachmittag nach dem Unfall in Aßling. (Foto: Josef Eisenberger/OH)

Für die Männer mit den Motorsägen ist das Prozedere gerade beendet. Mit Helm, Schnittschutzhose und Ölkanister stehen sie zu dritt am Aßlinger Gleisrand und wischen sich den Schweiß aus dem Gesicht. Der umgefallene Baum? "Eine gesunde Buche, voll belaubt", sagt Johannes Rothe, 42, und seit vier Jahren auf dieser Strecke verantwortlich, wenn am Rand ausgeschnitten werden muss. Die Vermutung des Kirchweidachers (Kreis Altötting): Durch die Niederschläge der verregneten Tage wurden die Wurzeln in der Erde freigelegt. "Und dann kam der Wind und gab dem Baum den Rest", sagt Rothe.

So wie vor zwei Jahren, auch damals wehte der Wind über dem Landkreis Ebersberg: Im Mai 2017 war ein Baum in die Strecke gestürzt, an ähnlicher Stelle auf gerader Strecke. Damals konnte der Zugfahrer noch rechtzeitig bremsen, haarscharf, wenige Meter vor dem Aufprall. Diesmal war der Zug vor der Kollision etwa einen Kilometer auf gerader Strecke unterwegs, laut Meridian seien 120 Kilometer pro Stunde in so einem Bereich durchaus üblich. Der Bremsweg sei sehr lange, womöglich war auch die Sicht nicht ideal.

Um kurz nach drei winkt Wolfgang Weidner durchs Fenster, er und der Mann mit dem Arbeitsvertrag haben ihre Termine verschieben können. Weidner verlässt als einer der letzten den Zug, seine Bibelsamt Apokalypse fest verschlossen in der Hand.

© SZ vom 13.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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