Awo-Kinderhaus Vaterstetten:Abbild der Gesellschaft

Die Tagesstätte nimmt seit Jahren behinderte Kinder auf - ein Film dokumentiert Inklusion als gelebte Praxis.

Karin Kampwerth

Vaterstetten - Das Mehl staubt eine dicke Wolke in die einfallenden Sonnenstrahlen. Zehn Paar Kinderhände kneten auf dem kleinen Tisch in einem dicken Teigklops. Plätzchen sollen das mal werden. Ungeschickt stellen sich die Kleinen beim Ausstechen mit Tannenbäumchen-, Sternen- oder Rentierförmchen aber nicht an. Sind die Leckereien erst einmal hauchdünn in Form gebracht, werden sie vorsichtig wie ein rohes Ei zum Backblech getragen. Wobei natürlich so mancher teigbekleckste Finger zwischendurch in einen Mund wandert. "Was glauben Sie, welches Kind behindert ist?", fragt Erzieherin Edith Fuchs die Besucherin von der Zeitung. Damit bringt sie auf den Punkt, welchen Weg das Awo-Kinderhaus an der Vaterstettener Carl-Orff-Straße in den 14 Jahren seit seinem Bestehen gemacht hat.

So lange leitet Edith Fuchs auch das Haus. Und während es in den Anfängen mit einer Integrationsgruppe darum ging, wie viele Kinder mit Behinderungen eine Einrichtung aufnehmen kann, spielt das heutzutage keine Rolle mehr. Genauso wenig, wie es interessiert, welches Kind unter welchem Handicap leidet. "Bei uns geht es nicht um fünf behinderte Kinder, bei uns geht es um 96 Kinder." Der Gedanke der Inklusion, also behinderten Menschen uneingeschränkten Zugang zu Bildung und Gesellschaft zu ermöglichen, wird an der Carl-Orff-Straße einfach gelebt. Das will die Einrichtung nun zeigen und hat einen Film in Auftrag gegeben. Unter dem Titel "Ein Kindergarten für alle Kinder" wird er am Dienstag, 13. Dezember, um 19.30 Uhr im Vaterstettener Rathaus gezeigt. Zur Premiere eingeladen sind sogenannte Multiplikatoren, Mitarbeiter aus anderen Einrichtungen etwa, von denen sich Edith Fuchs wünscht, dass sie sich von dem Film inspirieren lassen.

Ein kleines Mädchen wischt unterdessen den Mehlstaub auf dem dunkelblauen Pulli ihres Freundes fort. Ob einer von beiden Kindern oder auch beide eine Behinderung haben? Egal. Eine Erzieherin führt einem anderen Buben die Hand beim Teigausstechen. "Ganz vorsichtig", sagt sie und rückt das Förmchen in seiner Hand zurecht, damit der Teig nicht bricht. Ob der Kleine es alleine noch nicht schafft, weil er in der Entwicklung hinterherhinkt? Auch egal. "Jeder hat seine Stärken und seine Schwächen", sagt Edith Fuchs. "Die Aufgabe von uns Pädagogen liegt darin, bei den Stärken anzusetzen. Dann treten die Schwächen in den Hintergrund."

Auch das gelte für alle Kinder. Schließlich gebe es in der Einrichtung hochbegabte Kinder, welche mit Migrationshintergrund, es gebe Zugezogene genauso wie Kinder von Alteingesessenen, und eben auch behinderte Kinder. "Das ist für mich Normalität", sagt Edith Fuchs. "Ein Abbild unserer Gesellschaft in Vaterstetten."

Freilich räumt sie ein, dass es in einem Kindergarten leichter sei, den Gedanken der Inklusion mit Leben zu füllen. Denn es gibt zwar einen Bildungs- und Erziehungsplan. Dieser lässt den Erzieherinnen aber mehr Spielraum, als die eng gesteckten Lehrpläne in der Schule, die nach den ersten vier Jahren bereits auf Selektion ausgelegt ist, was dem Inklusionsgedanken ohnehin widerspricht. Die Pädagogin, die für die CSU im Vaterstettener Gemeinderat sitzt, fordert deshalb ein bildungspolitisches Umdenken. "Das Schulsystem muss jedem Schüler gerecht werden." Man müsse aus jeder Schule ein Kompetenzzentrum machen, in das auch Therapeuten kommen können. So wie im Kinderhaus, wo Kunstherapeutinnen die Arbeit in der Integrationsgruppe unterstützen.

Wobei der Begriff "Integration"an der Carl-Orff-Straße ohnehin überholt ist. Wie zum Beweis stürmen drei Kinder nach nebenan, während ein Mädchen aus der Nachbargruppe durch die Tür spitzt. Am Vormittag ist das Haus offen - die Kinder können sich innerhalb der vier Gruppen aufhalten, wo sie möchten. Auch die behinderten Kinder. Wer wo ist, erklärt eine einfach Infotafel. Jede Gruppe hat dort ein Symbol, jedes Kind einen Anhänger mit seinem Foto drauf. Wechselt ein Kind seine Gruppe, hängt es seinen Anhänger um. "Kindern, die das nicht schaffen, helfen wir", sagt Edith Fuchs und spricht für alle 96.

Von dem Film, den der Münchner Fernsehregisseur Lorenz Grassl in Szene gesetzt hat, erhofft sich Edith Fuchs, dass etwas Ruhe in die Inklusionsdebatte einkehrt, die sie manchmal um 14 Jahre zurückversetze. Damals wurde diskutiert, ob behinderte Kinder einen Regelkindergarten besuchen könnten. Dass das heute von Eltern als Mehrwert betrachtet werde, habe seine Zeit gebraucht. "Diesen langen Atem brauchen wir auch für die Inklusion", sagt Edith Fuchs. Auch wenn sie in Vaterstetten längst Gegenwart ist.

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