Süddeutsche Zeitung

Aus dem Landkreis nach Berlin:Die wüste Spur der Tonwalzen

Das entstehende Humboldt-Forum wird für den Umgang mit kolonialer Raubkunst kritisiert. Der Ebersberger Komponist Marc Sinan hilft nun mit einem Musiktheater bei der Völkerverständigung

Von Victor Sattler

Fragte man Aristoteles, die Bibel oder die junge Wissenschaft, woher der Mensch mit seinen Eigenarten komme, bekam man allerlei Antworten zu hören. Eines aber hatten sie lange Zeit gemeinsam: Dass die Völker verschieden und von unterschiedlichem Wert seien. "Schöpfungsmythen sind ein rassistisch aufgeladenes Thema", sagt der Komponist Marc Sinan. Der aus Ebersberg stammende Berliner beschäftigt sich in seinem neuen Projekt mit den Geschichten, die sich die Menschen seit jeher über ihren Ursprung, beziehungsweise ihre Ursprünge, erzählen. Das multimediale Musiktheater aus Sinans Feder trägt daher den Arbeitstitel "Am Anfang" - und steht selbst noch genau dort. Im Frühjahr 2020 wird es im neuen Humboldt-Forum im Berliner Schloss Premiere feiern, weitere Aufführungen der deutsch-malischen Koproduktion sind in Stuttgart und Bamako geplant. Im Humboldt Forum aber lastet eine besondere Verantwortung auf der Inszenierung.

Eine Erzählung vom Menschen, die besonders viel Schaden angerichtet hat, war der europäische Größenwahn, der in den Imperialismus führte. Die Exponate, die das Humboldt-Forum ab September ausstellen wird, sind zu einem Teil rechtmäßig erworben, wie die Museumsführung immer wieder betont, stammen aber zu einem anderen Teil aus kolonialistischen Plünderungen oder Völkermorden, wurden erpresst oder den Kolonialherren aus Furcht überlassen. Die deutsch-französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy hatte 2017 das Humboldt-Forum verlassen, weil ihr zu viel Blut von den Kunstwerken tropfte. Seitdem diskutiert Deutschland über die Chancen und Grenzen der Provenienzforschung (woher kommt das fragliche Ding?) und etwaige Restitutions-Ansprüche der kolonialisierten Kulturen (wohin soll das fragliche Ding denn jetzt?).

Der Konflikt erschöpft sich nicht in materiellen Schätzen. Es geht dabei um kompromisslose Sensibilität und Achtung - zum Beispiel vor den heiligen Gesängen eines nordamerikanischen Navajo-Medizinmannes, die das Museum von Tonwalzen abspielen könnte, aber die nach Navajo-Glaube eigentlich niemand zu hören bekommen darf. "Jede Wahrnehmung der Welt geschieht unter bestimmten Paradigmen", erklärt Marc Sinan, der sich mit den fremden Lebensstilen solidarisiert, "und mehr Spiritualität zuzulassen bedeutet ja noch lang keine Geringschätzung von Wissenschaft".

Auch der Komponist und Gitarrist Sinan hat fremdes kulturelles Eigentum von anderen Kontinenten nach Deutschland getragen. Aber die traditionellen Gesänge und Klänge, die er vor allem in Asien gesammelt hat, sind für alle Ohren gedacht und in Kooperation mit den örtlichen Musikern entstanden, für deren Herangehensweise Sinan sich stets interessiert. Diese interkulturelle Zusammenarbeit hat Sinan bereits Auszeichnungen eingebracht. Seine Aufnahmen waren im Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem zu Hause und ziehen demnächst gemeinsam mit 20 000 anderen Objekten, die Deutschland weit größeren Anlass zum Streit geben, ins neue Humboldt-Forum um.

Zusätzlich muss als Gegengift, so verlangen es Politik und Öffentlichkeit, auch der Postkolonialismus zur Sprache kommen, aber möglichst ohne die ausgestellte Kunst ein zweites Mal komplett zu dominieren. Dieser Spagat könnte durch Projekte wie "Am Anfang" gelingen, das zwar kein expliziter Beitrag zur Debatte wird, in dem sich aber Deutschland und die ehemalige französische Kolonie Mali ausdrücklich auf Augenhöhe begegnen: Das Team wird zu gleichen Teilen von Kunstschaffenden beider Länder gestellt. In einem durchmischten Viertel der malischen Hauptstadt Bamako gründet sich dafür eigens ein neues Ensemble des Kulturzentrums "BlonBa"; es wird das erste zeitgenössische Ensemble des Landes sein, so die Ankündigung.

Die Deutschen wollen von ihren Projektpartnern genauso viele Griffe auf dem Balafon, Bolon und Tambi lernen, wie sie auch deren "Horizont" durch moderne Musikformen zu "bereichern" hoffen. Kettly Noël, die malische Choreografin von "Am Anfang", ist mit Marc Sinan in dem avantgardistischen Plan vereint, alle kulturellen oder ethnischen Labels klanglich zu überwinden. Sinan selbst ist als Sohn einer türkeistämmigen Migrantin in Ebersberg aufgewachsen. Dass der Rassismus, den es in der Kreisstadt in den Achtzigern noch gegeben habe, sich bis in die Nullerjahre stark besserte - an diese Leistung gelte es anzuknüpfen, sagt Sinan und fragt in den Raum hinein, wie die Stimmung in seinem Heimatstädtchen wohl heute so sei?

Im Stil eines Dokumentartheaters wird "Am Anfang" verschiedene Vorstellungen vom Ursprung der Menschheit in kurzen Videos präsentieren, mit denen das Ensemble auch live interagiert. Eine Schlüsselrolle nimmt dabei die Schöpfungslegende des Dogon-Volks ein, die Sinan im Mali-Urlaub entdeckt hat: "Vom schwersten und schwärzesten Planeten" seien die "Nommos" gekommen, die ersten Lebewesen des Universums. Was die Legende so besonders macht: Dort, wo die Dogon diesen unsichtbaren Planeten vermuteten, entdeckten Astronomen einen unscheinbaren weißen Zwerg (Sirius B) als Begleiter des helleren Sirius A. Heute ist umstritten, ob die Dogon in der Kolonialzeit vielleicht Kontakt zu französischen Sternenkundlern hatten und ihre Legende entsprechend anpassten. "Die Dogon besaßen schon ein unerklärliches astronomisches Wissen", glaubt zumindest Marc Sinan, "da treffen Mythos und Wissenschaft aufeinander".

Den Komponisten fasziniert, wie fragil jedes einzelne der menschlichen Narrative ist, und von welch kurzer Dauer diese starken, den Globus spaltenden Überzeugungen bislang waren. Der Urknall und die Evolutionstheorie als Ende der Geschichte? Marc Sinan glaubt, da kommt noch was. "Die Wissenschaft ist auch nur ein Narrativ. Unsere fünf Sinne werden doch von jedem Fisch übertroffen!", sagt er - weil der Mensch kein Seitenlinienorgan besitzt. Mit seinen begrenzten fünf Sinnen will sich Sinan folglich auch zur kulturpolitischen Debatte um das kontroverse Humboldt-Forum nicht äußern: "Man muss sich als Künstler heute vor politischer Vereinnahmung schützen", erklärt er. "Nur so viel sei gesagt: Die Ambitionen des Forums sind auf alle Fälle groß."

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Quelle:
SZ vom 06.04.2019
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