Süddeutsche Zeitung

SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 89:Von Rosen und Meerjungfrauen

Immer wieder versorgt Pola Gülberg ältere Patienten mit Tätowierungen. Oft erfährt sie dadurch nette Anekdoten aus deren Leben, andere Tattoos sind auch einfach nur schön anzusehen. Manchmal gibt es aber auch Fälle, in denen ihr der Körperschmuck Unbehagen bereitet.

Protokoll: Johanna Feckl, Ebersberg

In meinem Beruf versorge ich nicht nur kranke Menschen, sondern ich lerne auch viel, was mit Pflege eigentlich gar nichts zu tun hat. So wäre mir in einem anderen Job eines vermutlich nie aufgefallen: Viele ältere Menschen tragen Tattoos. Oft ist es nur ein einziges, klein und unauffällig an einer Körperstelle, die nicht sofort zu sehen ist, sobald im Sommer ein Trägershirt getragen wird.

So zum Beispiel der Mann, gut über 60, auf dessen Oberarm ich das Bild einer Meerjungfrau entdeckte, als ich ihm die Manschette zum Blutdruckmessen anlegte. Der Tätowierung war anzusehen, dass sie vor langer Zeit gestochen worden war - die Farbe war ausgewaschen, die Ränder schon unscharf. Das tue ich nicht immer, aber wenn ich das Gefühl habe, es passt, dann frage ich auch mal nach der Geschichte zu dem Tattoo - so habe ich schon die eine oder andere schöne Anekdote aus dem Leben meiner Patienten erfahren: Die Meerjungfrau hat sich mein Patient als junger Mann stechen lassen, zusammen mit einigen Kameraden aus seinem Marine-Trupp. Eine "Jugendsünde", wie er selbst sagte. Trotzdem lächelte er verschmitzt, als er mir davon erzählte. So schlimm scheint er diese Jugendsünde dann doch nicht zu finden.

Eine andere Patientin trug unterhalb der Brust eine rote Rose, ganz klein und dezent. Die Frau war über 80 Jahre alt und jedes Mal, wenn ich diese schöne Blume sah, fragte ich mich, was sie wohl bedeutete. Danach fragen konnte ich leider nicht, denn die Patientin war beatmet, als ich mich um sie kümmerte.

Selten kommt es vor, dass ein Patient eine Tätowierung trägt, die mir Unbehagen bereitet - verbotene Symbole wie ein Hakenkreuz oder andere Nazi-Zeichen habe ich jedoch noch bei keinem gesehen. Aber einmal hatte ein älterer Patient Schriftzüge tätowiert, die den Wörtern nach gewaltverherrlichend waren. Das hat bei mir schon zu einiger Verunsicherung geführt. Ist dieser Mann jemand, der gerne zuschlägt? Gehört er einer extremistischen Gruppe an? Hat er sogar mal einen anderen Menschen getötet? Oder warum nur hat er sich Worte tätowieren lassen, deren Bedeutung in diese Richtung zeigten?

Niemand von uns hat erfahren, was es mit den Tattoos auf sich hatte, was für ein Mensch dieser Mann war: Als er zu uns kam, war er nicht bei Bewusstsein, Angehörige gab es keine. Und als er wieder aufwachte, hatte sein schwerer Krankheitsverlauf solch starke Hirnschäden hinterlassen, dass er kaum noch auf eine Ansprache reagierte.

Aber eines war klar: Obwohl die Tätowierungen eine Gewaltbereitschaft meines Patienten nahelegten, haben meine Kolleginnen und ich ihn mit der gleichen professionellen Pflege versorgt wie all unsere anderen Patienten auch. Wir sind Pflegekräfte, unsere Arbeit dreht sich darum, dass Patienten wieder gesund werden. Für das andere sind Richter zuständig.

Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 38-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind unter sueddeutsche.de/thema/Auf Station zu finden.

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