Süddeutsche Zeitung

Asylpolitik:"Die Abschiebungen in Bayern nehmen katastrophale Auswüchse an"

Die Ebersberger Ausländerbehörde plant am frühen Freitagmorgen eine Abschiebung aus der Psychiatrie. Kurz vor dem Termin legt das Bundesverfassungsgericht sein Veto ein. Über eine Nacht auf dem Klinikgelände.

Von Korbinian Eisenberger, Ebersberg/Taufkirchen an der Vils

Es ist 22.07 Uhr an diesem Donnerstagabend, als ein Karlsruher Verfassungsrichter ein Fax nach München schickt. Empfänger ist die Rechtsanwältin Juliane Scheer, für sie ist es eine gute Nachricht. Die Karlsruher Richter haben ihrem Mandanten Recht gegeben, der Ober hat den Unter gestochen, das Bundesverfassungsgericht das Münchner Verwaltungsgericht überstimmt. Scheers Mandant darf nicht wie geplant in der Nacht auf Freitag abgeschoben werden, so steht es im nächtlichen Karlsruher Urteil. Der Mann, der vom Landratsamt Ebersberg betreut wird, soll in der Psychiatrie bleiben. Die Frage ist nur, ob diese Information jetzt noch rechtzeitig bei der Ebersberger Ausländerbehörde ankommt.

Es ist bereits Freitag, eine Stunde nach Mitternacht, ein Klinikgelände in Taufkirchen an der Vils im Landkreis Erding. Ein Mann mit weißem Kittel und Papierzetteln in der Hand läuft über das Gelände und betritt ein Gebäude. Wichtige Dokumente, möglicherweise, zu dieser späten Uhrzeit. Im Haus 10 soll in dieser Nacht ein Mann aus der Psychiatrie abgeschoben werden, gegen zwei Uhr. Die Isar-Amper-Klinik, so scheint es, hat vom Karlsruher Urteil erfahren. Unklar ist jedoch, ob die Polizisten, die den Mann abholen sollen, diese Nachricht auch gelesen haben - oder ob sie gleich vor dem Haus mit der Aufschrift "Akutpsychiatrie" stehen. Deswegen brennt in der Klinik noch Licht.

Es geht um einen Mann aus Nigeria, dessen Asylantrag abgelehnt wurde und der Deutschland verlassen soll. Seit dem 12. Mai ist er in der Isar-Amper-Klinik in Taufkirchen untergebracht, wie seine Anwältin bestätigt. "Die Ärzte dort sind der Ansicht, dass er nicht transportfähig ist", sagt Scheer, sie ist Fachanwältin für Migrationsrecht. Die Bezirksklinik will sich wegen der ärztlichen Schweigepflicht nicht zum Gesundheitszustand äußern.

Anwältin Scheer unternimmt am Donnerstag den ersten Schritt. "Als ich gehört habe, dass in der Nacht was passieren könnte, habe ich einen Eilantrag ans Verwaltungsgericht gestellt", sagt sie, das war um 15.40 Uhr. Drei Stunden später dann die Ablehnung aus München. Das Verwaltungsgericht bezieht sich in seiner Begründung auf zwei "ausführliche und schlüssige Gutachten" einer "Ärztin für Kinder-und Jugendpsychiatrie" vom 10. Februar 2017 und vom 23. März 2017. Diese würden "die vollumfängliche Reisefähigkeit des Antragstellers" bestätigen. Das Attest des Taufkirchner Arztes sei eine "nicht näher begründete Behauptung".

Das bayerische Innenministerium weist jede Verantwortung von sich

Die Nacht schreitet voran, hinter den Fenstern des Klinikums sind die meisten Lichter ausgegangen. "Was uns ausmacht: Sicherheit - Nähe - Vielfalt", steht auf einem Schild im Eingangsbereich, wo sich der Klinikverbund des Bezirks Oberbayern vorstellt. Ein leichter Wind weht über das Gelände, frei zugängliche Häuser und Gärten, Bäume, ein Freiluftschachbrett und eine Balancierstange. Hier sollten in dieser Nacht Polizisten anrücken und einen Mann aus dem zweiten Stock abholen, dort wo in vielen Zimmern noch Licht brennt. Von München oder Stuttgart aus würde es wohl mit Zwischenhalt in die nigerianische Hauptstadt Lagos gehen, das wäre naheliegend - das Landratsamt Ebersberg gibt auf diese Frage am Morgen danach "aus Datenschutzgründen" keine Antwort.

So oder so ähnlich wäre es aber wohl gelaufen, hätte Anwältin Scheer nicht noch am selben Abend den nächsten Versuch gestartet. Aus ihrer Sicht ist die Stellungnahme der behandelnden Ärzte vom 20. Juli über die Reisefähigkeit plausibler, auch weil der Patient 49 Jahre alt ist "und damit kaum in die fachärztliche Zuständigkeit einer Kinderärztin fallen dürfte", sagt Scheer. Weil bei der nächsthöheren Instanz, dem bayerischen Verwaltungsgerichtshof, am Donnerstagnachmittag niemand mehr erreichbar ist, stellt sie ihren Antrag auf einstweilige Anordnung an das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Um kurz nach zehn kommt von dort ein Beschluss, der Scheers Einschätzung teilt. Die Stellungnahme der Taufkirchener Klinik beinhalte eine Diagnose, die zum Zeitpunkt der Gutachten aus dem Frühjahr noch nicht vorlag, heißt es. Fraglich sei, ob die Abschiebung den Anforderungen des Grundgesetzes gerecht werde, da sich der Mann "seit mehreren Wochen in stationär-psychiatrischer Behandlung befindet." Dabei bezieht sich das Gericht auf eine "kurze schriftliche Stellungnahme" der Klinik. Ein ausführlicheres Statement "war in der Kürze der Zeit offenkundig nicht möglich, da die beabsichtigte Abschiebung erst am heutigen Tag bekannt wurde", so das Gericht. Daher werde die Abschiebung zunächst "für sechs Monate untersagt".

Es handelt sich hier um eine Einzelfallentscheidung, "mit der wir nicht befasst sind", dies teilt die Pressestelle des bayerischen Innenministeriums am Freitag auf Nachfrage mit. Für Stephan Dünnwald, Sprecher des bayerischen Flüchtlingsrats, steht der Fall hingegen "exemplarisch dafür, dass die Abschiebepolitik in Bayern katastrophale Auswüchse annimmt." Ende Mai war das bayerische Innenministerium bereits arg in die Kritik geraten, nachdem eine Abschiebung eines Berufsschülers aus seiner Klasse zu tumultartigen Szenen in Nürnberg geführt hatte. "Nun wollte man wieder in einen geschützten Bereich eingreifen", so Dünnwald.

Zwei Uhr früh, die Gebäude auf dem Klinikgelände sind finster, nur das Haus mit der Nummer 10 ist im Mitteltrakt voll beleuchtet, eine Schwester lugt immer wieder auf die verglaste Eingangstür. Für diese Zeit haben sich die Polizisten angekündigt, veranlasst hat das die Ausländerbehörde des Landratsamts Ebersberg, in deren Gebiet wohnte der 49-Jährige bevor er in die Klinik kam. Aus Ebersberg heißt es auf Nachfrage, dass der Ausländerbehörde "bis zuletzt keine Gründe für eine Aussetzung der Abschiebung" vorlagen. Eine freiwillige Ausreise habe er abgelehnt.

2.15 Uhr in Taufkirchen, der Mann mit dem weißen Kittel sperrt ab. Die Polizisten sind nicht gekommen.

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SZ vom 22.07.2017/koei
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