Aßlinger Autor:Sittengemälde eines Dorfs im Ausnahmezustand

Aßlinger Autor: Eine historische Aufnahmen von der Unfallstelle.

Eine historische Aufnahmen von der Unfallstelle.

(Foto: privat)

Simon Viktor schreibt einen beeindruckenden Roman, der die wahre Geschichte des Zugunglücks zwischen Aßling und Elkofen von 1945 in einem fiktiven Plot erzählt. Das Debüt ist sprachlich brillant, erfüllt aber auch einen hohen kulturwissenschaftlichen Anspruch.

Von Thorsten Rienth, Aßling

Gnadenloser kann ein Roman kaum beginnen: "Abgesehen von dem Jungen und der Frau ist der Bahnsteig leer. Sie stehen seit Tagesanbruch hier. Die Augen des Jungen wandern zur alten Uhr, die unter dem Vordach der flachen Schalterhalle hängt. Er hatte sich eigentlich vorgenommen, in Gedanken bis hundert zu zählen, bevor er das nächste Mal zur Uhr schaut. Bis neunundzwanzig hat er es ausgehalten. Neunundzwanzig. So alt ist der Papa vor zwei Tagen geworden, hat der Junge gedacht. Und da hat er eben doch wieder zur Uhr geschaut."

Man weiß ja, dass der Zug nicht kommen wird. Dass der Papa den Krieg zuerst überlebt hat - und dann doch wieder nicht. Genau das ist die Tragik des schlimmsten Zugunglücks der deutschen Nachkriegsgeschichte, das Simon Viktor zum Sujet seines ersten Romans macht, schlimmer noch als das ICE-Unglück in Eschede im Jahr 1998.

Vieles im Roman "Durch die Welt ein Riss" ist erfunden. Personen, Dialoge, kleine Vorkommnisse, Beobachtungen. Doch das meiste ist - leider - wahr. Künstleragent und TV-Texter Simon Viktor hat einen Teil der Pandemie genutzt, um in Archiven Zeitzeugenberichte und alte Protokolle rund um das Zugunglück zu wälzen. Und dann auf knapp 200 Seiten in zwei Erzählsträngen davon zu erzählen.

Eine Leselinie beruht auf dem historischen Kontext

Die eine Leselinie konstruiert Viktor aus dem historischen Kontext: Seit einem Bombenangriff in den letzten Kriegswochen sind die elektrischen Sicherungsanlagen entlang der Gleise von Rosenheim und München defekt. "Ein Zug darf in einen Abschnitt erst einfahren, wenn der vorausfahrende Zug diesen bereits verlassen hat. Das muss der Fahrdienstleiter vorher seinem Kollegen auf der rückwärtigen Signalstelle melden. (...). Das Vorgehen ist aufwendig, ja, sicher. Aber es funktioniert."

Aßlinger Autor: 106 Soldaten haben bei dem Unglück ihr Leben verloren.

106 Soldaten haben bei dem Unglück ihr Leben verloren.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Doch nicht am 16. Juli 1945. An dem Tag rast, etwas nördlich von Aßling, ein mit US-Panzern beladener Güterzug ungebremst in einen stehenden Zug mit Kriegsheimkehrern. Sie befinden sich auf dem Weg zu ihrer Entlassung nach Hannover. 106 Soldaten kommen ums Leben, der älteste 55 Jahre alt, der jüngste seit ein paar Monaten volljährig.

Wie ein Countdown zum Unglückstag tickt der Erzählstrang: Ein halbes Jahr zuvor, zehn Wochen zuvor, zwei Tage zuvor - dazu gibt's eine gnadenlose Perspektive auf die Zeitgeschichte. "Mei, früher haben viele Frauen die Kinder im Bauch wegmachen lassen, wenns ned verheiratet gewesen sind. Jetzt gebens die Kinder halt dem Führer."

In diese Leselinie verwebt Viktor den Romanplot. Der wartende Junge an dem westdeutschen Bahnsteig. Das oberbayrische Dorf nicht weit von der Unglücksstelle. Die Aßlinger tragen selber schwer. Der Marra Paul verkriecht sich unter der Bettdecke, weil er Blitze für Mündungsfeuer und Donner für Artilleriesalven hält. Beim alten Pongratz Johann dreht sich das Innere nach außen. "Sein Mageninhalt klatscht vor ihm auf den Bahnsteig, ein beißender Geruch dringt in seine Nase, er muss die Augen zusammenkneifen, würgt, seine Fingernägel kratzen über den Asphalt."

Der Roman ist ein sprachlich brillantes Sittengemälde

Ein beeindruckender historischer Roman ist Viktor da gelungen: ein sprachlich brillantes Sittengemälde einer Dorfgesellschaft im Ausnahmezustand - mit dem Anspruch eines klaren kulturwissenschaftlichen Profils. Mit abrupten Wechseln in der Handlung, aber trotzdem entlang eines literarischen Fadens. Und nur so gespickt mit Lautmalereien und Metaphern: Blicke, die auf der Haut jucken. Rippen, die vor Schmerz schreien. Und drüber steht der Mond, hell und schön.

Und der Junge am Bahnsteig? Hat ein Bild von einem Hund gemalt, ganz schwarz, weil statt bunten Stiften nur Kohle da war. "Die Augen vom Hund sind auch schwarz, wie der frische Teer in den Bombenkratern auf dem Platz vorm Bahnhof. (...). Er freut sich schon auf den Moment, wenn er das Papier aus der Tasche zieht und auffaltet. Warte nur, Papa, bis du den Hund siehst. Der wird dir gefallen."

"Durch die Welt ein Riss" erscheint im Mai beim SüdOst Verlag.

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