Geschichte im Landkreis Ebersberg:Tödlicher Übermut

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Messerschmitt-Jagdflugzeuge zählten 1939 auch zur Ausstattung des Fliegerhorstes bei Bad Aibling. Der genaue Typ des Unglücks-Tieffliegers von Aßling ist jedoch nicht überliefert. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Kurz vor Kriegsbeginn geschieht bei Aßling ein schrecklicher Flugunfall: Ein Pilot der Wehrmacht vollführt waghalsige Kunststücke und kommt dabei dem Boden zu nah. Zwei Kinder sterben, zwei werden schwer verletzt. Historiker Bernhard Schäfer hat die Geschehnisse rekonstruiert.

Von Anja Blum, Aßling

Als der Lehrer am 29. Juni 1939 morgens um kurz nach sieben das Schulhaus in Dorfen bei Aßling aufsperrt, bleibt er erst einmal allein. Denn seine Schülerinnen und Schüler sind da alle schon auf eine etwas erhöht liegende Wiese gelaufen, um völlig gebannt einem Spektakel beizuwohnen: Ein Pilot der Wehrmacht von einem Fliegerhorst bei Bad Aibling vollführt zwischen Dorfen Lorenzenberg wieder einmal waghalsige Flugmanöver. Er möchte damit seiner beim Wirt beschäftigten Geliebten imponieren. Doch an diesem Tag endet das riskante Gehabe mit einem furchtbaren Unglück: Zwei der Schulkinder sterben, zwei überleben schwer verletzt.

Beinahe wäre diese tragische Begebenheit – der Tod dieser Kinder kurz vor Kriegsbeginn – in Vergessenheit geraten. Wäre da nicht der Historiker Bernhard Schäfer. Der Grafinger Archivar und Museumsleiter ist einem Hinweis nachgegangen, hat recherchiert und die Geschehnisse von damals rekonstruiert. „Die Quellenlage ist allerdings relativ dünn“, sagt er. Im Ebersberger Anzeiger vom 30. Juni 1939 stünden nur ein paar dürre Zeilen über das Unglück, danach sei offenbar eine Nachrichtensperre verhängt worden. Kein Wunder, immerhin war der Schuldige ein Pilot der Wehrmacht. Die fragliche Ausgabe der Grafinger Zeitung wiederum sei im Archiv leider nicht vorhanden.

Bernhard Schäfer hat sich unter anderem der Erforschung der Zeit des Nationalsozialismus im Landkreis Ebersberg verschrieben. Hier spricht er bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer. (Foto: Christian Endt)

Trotzdem, ein paar Dokumente über das Flugunglück von Dorfen konnte der Historiker durchaus finden – und ermöglicht so nun ein Erinnern an die damaligen Opfer. Wer mehr erfahren möchte über die Tragödie, die sich vor 85 Jahren zutrug und laut Schäfer die ganze Gegend traumatisierte: Am Montag, 5. August, berichtet er davon bei einer Veranstaltung des Historischen Vereins für den Landkreis Ebersberg.

Aussagekräftig sind vor allem die handschriftlichen Aufzeichnungen des damaligen Hilfslehrers in Dorfen, Kurt Wagner. Dieser beschreibt, wie er sich an besagtem Morgen bei seiner Frau über die Flugmanöver beschwert und ihr mitteilt, dass er sich „gezwungen sähe, den Horst anzurufen, damit diese, mir unheimlich anmutenden, sich oft nur wenige Meter über dem Erdboden abspielenden ’Kunstfiguren’ seitens der Horstkommandantur abgestellt würden“. Doch zu diesem Telefonat kommt es nicht mehr, denn just in diesem Moment klingelt es „heftig“ an der Tür. „Ein Unheil ahnend“ eilt der Lehrer dorthin. Vor ihm stehen seine Schulkinder, „furchtbar erregt und vollkommen von einem ungeheuren Schrecken überwältigt“.

Was der Lehrer weiter schildert, ist nichts für schwache Nerven

Was genau war passiert? Darüber gibt auch eine Ortschronik des inzwischen verstorbenen Martin Ziller Auskunft. Beim Unterfliegen der Stromleitungen war das Flugzeug dem Boden derart nahe gekommen, dass eine der Tragflächen die staunenden Kinder erfasste. Mit verheerenden Folgen.

Anni Huber, geboren 1931, verliert bei dem Flugunfall ihr Leben. Das Foto zeigt sie mit ihrem Bruder Sebastian Huber (1930 bis 2019), es stammt aus dem Besitz von Eleonore Buchner aus Dorfen, der Nichte von Anni Huber. (Foto: privat)

Was Lehrer Wagner weiter schildert, ist nichts für schwache Nerven. Denn auf der Wiese bietet sich ihm ein schreckliches Bild: Die Köpfe zweier Kinder sind „vollständig zerschmettert“, Anni Huber und Wilhelm Schleipfer, beide aus Dorfen, waren sofort tot. Einem anderen Schüler, Korbinian Schillinger aus Eichofen, ist „ein Teil der Kopfschwarte aufgerissen“. Der Lehrer verbindet ihn. Ein Mädchen, Maria Spindler aus Dorfen, hat einen Arm verloren. Trotzdem liegt sie laut Wagner „tapfer und gefasst“ auf dem Sofa des nächstgelegenen Hauses, in das hilfsbereite Menschen sie bereits gebracht haben.

Maria ist neun Jahre alt, als das Flugzeug ihr den rechten Arm wegreißt. Neun lange Monate verbringt das Mädchen nach dem Unglück im Haunerschen Kinderkrankenhaus in München, mit Entzündungen, Infektionen und Operationen. Und weil die Zugfahrt in die Stadt sehr lange dauert, kann die Mutter nicht allzu oft zu Besuch kommen. Marias fehlenden Arm ersetzt fortan eine Prothese, die allerdings unbeweglich ist und nicht mehr als eine optische Funktion erfüllt.

Den rechten Arm verliert Maria Spindler als Neunjährige wegen eines zu tief fliegenden Piloten. Das Bild zeigt die Überlebende mit Armprothese im Alter von ungefähr 16 Jahren. (Foto: privat)

Aber Maria Spindler überlebt. Und gibt sich nie auf. Ganz im Gegenteil. Sie wird ihre große Liebe heiraten, Stefan Bodmaier, fünf Kinder auf die Welt bringen, Haushalt und Bauernhof auch nur mit einer Hand gut im Griff haben. So erzählt es Tochter Maria Zehetmair, die 68-Jährige lebt heute in Netterndorf. Erst im Alter von 85 Jahren sei ihre Mutter umsorgt von der Familie friedlich für immer eingeschlafen. 

„Wir haben unsere Mama nie als behindert empfunden“, sagt die Tochter weiter, „wir kannten sie ja auch gar nicht anders.“ Außerdem sei sie eine sehr starke Frau gewesen. Habe ihr Schicksal angenommen – und ihr Leben gut bewältigt. „Damit muss ich leben, ich stehe meine Frau“, habe ihre Mutter gesagt, erzählt Zehetmair. „Ich war immer stolz auf sie. Sie war eine super Mama!“

Der ungehorsame Pilot wurde an die Front versetzt, wo er wohl bald darauf gefallen ist

Doch zurück ins Jahr 1939: Der Regierungspräsident hält in seinem Monatsbericht zur innenpolitischen Lage zunächst fest: „Die Stimmung der Bevölkerung ist trotz der Verschärfung der außenpolitischen Beziehungen unverändert zuversichtlich.“ Unter „Besondere Vorkommnisse“ folgen schließlich ein paar Zeilen zu dem Flugunglück. Dort heißt es: „Die Bevölkerung ist von dem Vorfall tief beeindruckt.“ Eine heute sehr seltsam anmutende Wortwahl. Außerdem: Den Täter habe man festgestellt und ans Kriegsgericht überwiesen. Laut Zillers Ortschronik wurde der Pilot bei Ausbruch des Krieges an die Front versetzt, „wo er bald darauf gefallen ist“.

Lehrer Kurt Wagner schreibt, dass er den „tollkühnen Wagestücken“, obwohl selbst Soldat, stets „mit Entsetzen“ zugesehen habe. Sein Urteil jedenfalls fällt eindeutig aus: „Es war ein besonders wagemutiger, aber auch pflichtvergessener und ungehorsamer Flugzeugführer.“

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Die beiden toten Schulkinder werden bereits am 1. Juli in Lorenzenberg und Dorfen beigesetzt, unter großer Teilnahme der Bevölkerung, wie Wagner schreibt. Bei der Beerdigung drückt auch ein Offizier vom Fliegerstützpunkt in Bad Aibling den Trauernden sein Mitgefühl aus, weist aber ebenso darauf hin, „dass gerade bei den Fliegern ein tollkühner Geist herrschen müsse, denn die Flugwaffe sei berufen, die drohendsten Gefahren für die Heimat abzuhalten“. Deshalb bitte er um Verständnis „für die harte und unerbittliche Aufgabe, vor der jeder Flugzeugführer stehe, wenn es einmal gelte, sein Leben einzusetzen im Kampf gegen die Feinde des deutschen Volkes“. Zwei Monate später beginnt Hitlerdeutschland den Zweiten Weltkrieg.

Eine „Historische Runde“ zum Dorfener Flugunfall von 1939 findet statt am Montag, 5. August, im Gasthaus Alte Post in Ebersberg, Marienplatz 8. Beginn ist um 19.30 Uhr. Zu dem Treffen sind alle Interessierten eingeladen.

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