Der Blick aus dem Fenster über der hölzernen Eckbank neben dem Kachelofen zeigt ein Idyll: Felder und Weiden, auf denen Tiere friedlich grasen. Das Thema von Hausherrin Gabi Reichhelm jedoch steht in krassem Gegensatz dazu. „Er will mich physisch vernichten – töten –, das hat er gesagt und er meint es auch so. Keine Nacht kann ich seitdem schlafen.“ Das lässt die Aßlingerin eine der Figuren in ihrem neuen Roman „Alles hineinlegen in den Tanz“ sagen.
Die bedrohliche Szene spielt in einer Schule. Und auch wenn die sich nicht auf einen konkreten Vorfall bezieht, entspricht sie doch dem, was Reichhelm so erlebt hat. Denn die studierte Sozialpädagogin, Familien- und Paartherapeutin schreibt unter dem Pseudonym Gabi Anders Romane, die nah dran sind an der Wirklichkeit: Als die heute 67-Jährige noch bei der Stadt München angestellt war, arbeitete sie dort unter anderem im schulpsychologischen Dienst, dem sie bis heute freiberuflich verbunden ist.
Bei der Krisenintervention an Schulen lag ihr Schwerpunkt auf sexueller Gewalt
In Realschulen, Gymnasien und Berufsschulen war die gebürtige Münchnerin, die heute in Aßling eine Praxis für Beratung und Coaching betreibt, mit dabei, wenn das Kriseninterventionsteam bei Todesfällen, Suiziden, Vergewaltigungen oder akuten Bedrohungslagen gerufen wurde. Ihr Schwerpunkt: sexuelle Gewalt.
Auch ihre Romanfigur, Familientherapeutin Katja Teuber, hat immer wieder mit Jugendlichen in Not zu tun. In einem ersten Band mit dem Titel „Der Geruch von Wasser“ kommt die Protagonistin einem pädosexuellen Netzwerk auf die Spur, was dazu führt, dass ihre Sekretärin ermordet wird und sie selbst überfallen wird.
Im zweiten, aktuellen Band bemüht sich die Protagonistin, diese Geschehnisse zu verarbeiten und ihr Leben weiterzuführen. Dazu gehört die Beziehung zu ihrem Partner Tom, einem Journalisten. Dazu gehören ihre politischen Aktivitäten. Und dazu gehören auch weiter berufliche Herausforderungen, die in Form kleiner Miniaturen wie Blitzlichter im Verlauf des Romans auftauchen.

Natürlich sind alle Inhalte – wie in Band eins – frei erfunden, lehnen sich jedoch durchaus an das an, was die Autorin in ihrem Beruf als Therapeutin erlebt hat. Und das hat einen ganz bestimmten Grund: Gabi Reichhelm ist seit Anfang der 90er-Jahre aktiv im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, wo sie zeitweise sogar das Amt der Bundesvorsitzenden innehatte. „Bei uns schreiben Menschen Bücher über ihren Alltag, ihre Arbeits- und Berufswelt“, erläutert sie.
Grund für die Entstehung dieses Werkkreises sei gewesen, dass die zeitgenössische Literatur häufig nur das Bildungsbürgertum abgebildet habe, „der arbeitende Rest kam nicht vor“. Doch genau diese Menschen machten ja die Mehrheit der Gesellschaft aus, sagt Reichhelm, deswegen müsse man gerade sie ermuntern, zum Stift zu greifen. „Das Schreiben ist ein wichtiges Ausdrucksmittel für Menschen, die sonst kein Gehör finden.“
Darum veranstaltet die Tochter eines Werkzeugmachers und einer Verkäuferin zweimal im Jahr mit Werkkreis-Kollegin Marie-Sophie Michel literarische Tagesworkshops. Der nächste – es geht um Prosa – findet am 15. März statt. „Jeder, der Interesse hat, kann ohne Voraussetzungen teilnehmen“, so Reichhelm. Details finden sich auf geest-verlag.de, Anmeldungen sind noch möglich.
Auch Gabi Reichhelm selbst musste ihre Stimme als Autorin erst finden. Zwar habe sie immer schon gern geschrieben, Tagebuch, Facharbeiten, später Aufsätze oder Handreichungen für Lehrkräfte und Erzieherinnen. „Doch mir zu erlauben, literarisch zu schreiben, war ein Prozess – und gar nicht so leicht“, sagt die Aßlingerin. Zumal sie damals voll berufstätig und Mutter zweier Kinder von neun und fünf Jahren gewesen sei. Trotzdem, 1993 gab es die erste Veröffentlichung, eine Geschichte über ihre Großmutter, erschienen in der Anthologie „Frauenleben in München“.

Es folgten Lyrikbände und Romane – wie eben jene zwei Bücher über Heldin Katja. Dieser liegen die jungen Opfer, denen sie begegnet, ebenso am Herzen wie der echten Therapeutin. Gerade für Kinder und Jugendliche sei die Hemmschwelle, sich jemandem anzuvertrauen, oft immens, sagt Reichhelm. Entweder aus Scham, oder weil sie bedroht würden. „Die haben teilweise nicht nur in der Situation, sondern auch noch lange danach Todesangst.“
Bei solchen therapeutischen Einsätzen stehe zu Beginn stets ein Gespräch – mit dem Opfer oder jemandem, der hinter einer Verhaltensänderung einen Übergriff vermutet. „Das können Eltern sein, aber auch Lehrkräfte oder Erzieherinnen“, sagt Reichhelm, die solche Zielgruppen bei Fortbildungen für das Thema sensibilisiert. Anschließend werde dann gemeinsam überlegt, wie das weitere Vorgehen aussehen solle.
Gern zusammen auf der Bühne: Reichhelms Mann ist ebenfalls Sozialpädagoge, außerdem Liedermacher
Neben Fallbeschreibungen fließen auch weitere autobiografische Aspekte in den Roman ein. So liebt die Autorin das Land Italien, wohin sie ihre Heldin reisen lässt, sehr. Und auch politische Kundgebungen – wie die im Buch geschilderten Demos in Dresden und Garmisch rund um den G-7-Gipfel - sind ihr nicht fremd.
Was ihr ebenfalls Spaß mache, so Reichhelm, sei die Dynamik, die durch die Interaktion zwischen unterschiedlichen Milieus entstehe, wie es auch bei ihr und ihrem Mann der Fall sei. Dennoch harmonieren die beiden ganz trefflich: Holger Reichhelm ist Sozialpädagoge wie seine Frau, die beiden haben sich im Studium kennengelernt, und Liedermacher. Bei ihren Lesungen spielt er Gitarre und singt. „Wir stehen unheimlich gern zusammen auf der Bühne“, sagt die Autorin.
Ballett ist ein Kraftquell – sowohl für die Protagonistin als auch für deren Schöpferin
Das wohl stärkste autobiografische Element ist jedoch der Tanz. Er ist Kraftquell, sowohl für die Protagonistin als auch für deren Schöpferin. Als Kind habe sie klassisches Ballett gemacht und geliebt, „doch dann konnten es sich meine Eltern nicht mehr leisten“. Während des Studiums nahm die Autorin das Hobby jedoch wieder auf und verband es später als langjährige Leiterin der Projektgruppe Tanz an der Fachakademie Sozialpädagogik mit ihrem Beruf.
Gut möglich, dass der Romantitel „Alles hineinlegen in den Tanz“ aus dem intensiven Bedürfnis nach Bewegung entstand. Ganz sicher aber war die tiefe Freude an dieser Ausdrucksform Auslöser für die seitenlangen Schilderungen beeindruckender Choreografien im Buch. Unter anderem durch die Energie, die in diesen Beschreibungen steckt, wird deutlich, was dieser Autorin besonders wichtig ist: „Ich möchte Menschen ermutigen, auch in schwierigen Lebenssituationen nicht aufzugeben.“ Eine solche Haltung macht Hoffnung und tut der Seele gut – wie manchmal ein Blick aus dem Fenster in die Natur.