Anzinger Initiative:"Die Leute trauen sich gar nicht zu schreiben"

Anzinger Initiative: Herzliche Begrüßung: 50 bis 60 Kinder holte die Anzinger Initiative in besseren Zeiten jedes Jahr nach Oberbayern, hier ein Bild von der Ankunft im Jahr 2013.

Herzliche Begrüßung: 50 bis 60 Kinder holte die Anzinger Initiative in besseren Zeiten jedes Jahr nach Oberbayern, hier ein Bild von der Ankunft im Jahr 2013.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Seit 31 Jahren hilft Ingeborg Nünke Kindern aus der Nähe von Tschernobyl, ein bisschen unbeschwerte Freude zu erleben. Doch nun ist der Kontakt zu ihren Freunden in Belarus gekappt.

Von Barbara Mooser, Anzing

Ingeborg Nünke klingt leise und gedämpft. Das liegt nicht nur daran, dass sie gerade krank ist. Sie macht sich auch große Sorgen um ihre Freunde in Wolinzy, einem kleinen Dorf in Belarus, etwa 200 Kilometer nördlich von Tschernobyl. Ein vergessenes Dorf, ein Ort, in dem die Folgen des Unglücks in dem nahe gelegenen Atommeiler auch 36 Jahre später noch deutlich spürbar sind.

Elfmal hat Nünke Wolinzy schon selbst besucht, sie weiß, wovon sie spricht. Vor mehr als 30 Jahren hat die Anzingerin zum ersten Mal Kinder aus Wolinzy nach Oberbayern eingeladen, damals war die belarussische Region noch stark von radioaktiver Strahlung belastet. Ein paar Wochen aus dieser giftigen Umgebung herauskommen, einen unbeschwerten Sommer erleben mit Tagen am Badeweiher, gemeinsamen Grillabenden und Ausflügen - das wollten Ingeborg Nünke und ihre viele Mitstreiterinnen und Mitstreiter in Anzing und Umgebung den Kindern ermöglichen. Zwischen 50 und 60 Buben und Mädchen reisten jedes Jahr mit dem Bus von Belarus nach Anzing. Inzwischen kommen schon die Kinder der ersten Kindergeneration, längst haben sich Freundschaften zwischen den Bewohnern von Anzing und Wolinzy entwickelt.

Anzinger Initiative: Ingeborg Nünke hat inzwischen auch viele Freunde in Wolinzy.

Ingeborg Nünke hat inzwischen auch viele Freunde in Wolinzy.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Corona machte in den vergangenen zwei Jahren den lieb gewordenen Besuch unmöglich, statt dessen versuchte der Anzinger Verein den Kindern mit Geschenken an Ostern und Weihnachten eine kleine Freude zu machen. Doch nun sind auch viele Kontakte nach Belarus unterbrochen. Über Whatsapp und Telefon hatte man sich bisher ausgetauscht, doch seit Beginn des Kriegs herrscht weitgehend Stille. "Die Leute trauen sich gar nicht zu schreiben" sagt Ingeborg Nünke. Zu vielen Menschen in Wolinzy sei "der Draht gekappt". Ob die Technik nicht mehr funktioniert oder die Menschen es einfach nicht wagen, etwas zur Lage in ihrer Region zu sagen, das ist von außen schwierig zu beurteilen.

Die Bewohner hören das Dröhnen der Flugzeuge

Mit einer Lehrerin, die schon als Kind in Anzing war, habe sie nach Beginn des Kriegs in der Ukraine noch telefoniert, doch nur eine sehr vorsichtige Einschätzung der Lage erhalten. "Es geht schon, sagt sie. Ihr Präsident sagt, alles ist in Ordnung", berichtet Nünke von dem Telefonat. Doch die Menschen in Wolinzy hören das Dröhnen der Flugzeuge, sie sind nah dran am Kriegsgeschehen in der benachbarten Ukraine. "Wir haben Angst", auch das habe die junge Frau im Telefonat noch gesagt, erzählt die Anzingerin.

Doch die Möglichkeiten, den Freunden in Wolinzy jetzt beizustehen, sind gering. Man habe ihnen gesagt, sie seien in Anzing willkommen, wenn sie einen Weg aus Belarus fänden, sagt Nünke, doch offenbar sei die Ausreise gesperrt. "Ganz furchtbare Sorge" habe sie um die Kinder in Wolinzy. "Wir dürfen nichts tun für sie. Aber sie wissen, wir denken an sie." Eigentlich wollte man Geld nach Belarus schicken für die Anschaffung von neuen Schuhen, das habe nicht funktioniert. Sie hoffe aber, dass der Transfer von Geld, mit dem man junge Auszubildende unterstütze, noch geklappt habe, 70 Euro monatlich gibt es für jeden. Schließlich sei das ja auch eines der Ziele des Anzinger Vereins: "Wir unterstützen Familien, damit sie aus diesem Niemandsland rauskommen."

Denn wer in Wolinzy geboren wird, hat es schwer, im Leben einen guten Start hinzubekommen. Die Erde ist nach wie vor verseucht und wird es noch lange bleiben. Trotzdem bauen die Menschen hier ihr eigenes Gemüse an, es gibt ansonsten nur einen kleinen Laden in dem abgelegenen Ort, der inzwischen nicht einmal mehr auf den Landkarten eingezeichnet ist. Viele Bewohner sind krank, Alkoholismus ist weit verbreitet. Der Anzinger Verein will deshalb dabei helfen, dass junge Menschen sich trauen, sich in anderen Regionen von Belarus ein Leben aufzubauen. Mittlerweile haben mehr als 70 junge Leute, die in Wolinzy aufgewachsen sind, mit Hilfe des Vereins einen Beruf erlernt und einen guten Start in ein besseres Leben hingelegt. Seit 2020 unterstützt der Verein auch Familien, die die verstrahlte Region verlassen wollen. Das Engagement Nünkes ist weit über die Region hinaus bekannt. 2019 wurde sie für ihre Arbeit mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.

Wie es weiter geht mit der Anzinger Initiative, das ist momentan unklar, wie so vieles. Unter den derzeitigen Umständen einen Besuch zu organisieren, das sei schlichtweg nicht möglich, sagt Nünke: "Aber wir hoffen schwer, dass sich das alles wieder ändert."

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