Anzing:Zu Besuch im Niemandsland

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Am Samstag reisen Helfer des Anzinger Tschernobyl-Vereins zum zwölften Mal ins weißrussische Wolinzy

Von Anselm Schindler, Anzing

Wolinzy ist ein toter Ort. Obwohl dort noch Menschen leben, "leider", wie Ingeborg Nünke sagt. Sie sähe das weißrussische Dorf lieber leer, auch wenn sie sich am Samstagmorgen wieder dorthin aufmachen wird - das zwölfte Mal in ihrem Leben. Die Suche auf Google Maps zeigt keine Treffer an, wenn man Wolinzy eingibt, "vor rund eineinhalb Jahren haben sie den Ort auf der Karte gelöscht", sagt Ingeborg Nünke. Eigentlich dürfte es ihn nicht geben, seit er zwangsgeräumt wurde. Wolinzy ist verstrahlt. Der Boden, das Wasser, das Essen. Alles.

Das Dorf, das es nicht geben dürfte, liegt etwa 100 Kilometer nördlich der weißrussisch-ukrainischen Grenze, knapp einhundert Kilometer entfernt von Tschernobyl. Als dort am 26. April 1986 die Reaktoren schmolzen, und sich die radioaktiven Wolken über Europa verbreiteten, da wusste Ingeborg Nünke, dass sie etwas tun muss für die Menschen in der Region.

Zusammen mit einigen Mitstreitern gründete sie den Verein "Hilfe für Kinder aus der Gegend von Tschernobyl". Der Verein ist inzwischen seit 26 Jahren aktiv. Jedes Jahr holen die zehn Mitglieder Kinder und Jugendliche für einige Wochen nach Anzing, "und über das Jahr haben wir auch Kontakt über Briefe", erklärt Sylvia Retka-Wallner, die Gastmutter eines Mädchens aus Wolinzy ist. Bereits drei Mal war das Mädchen in Anzing, das erste Mal im Alter von neun Jahren.

Ingeborg Nünke wird am Samstag mit gemischten Gefühlen ins Flugzeug steigen. Sie hat eine enge Bindung zu Wolinzy und seinen Bewohnern aufgebaut. Doch das Ziel sei es eigentlich, dass in Wolinzy niemand mehr leben muss, sagt Nünke. Deshalb bezuschusst der Verein Jugendliche mit monatlich 50 Euro, wenn sie eine Ausbildung beginnen. "In Wolinzy und der Umgebung gibt es keine Arbeit", erklärt Nünke. Der Verein unterstützt die Jugendlichen deshalb dabei, den Ort zu verlassen und sich in anderen Städten Weißrusslands ein neues Leben aufzubauen. Weit weg vom Geisterdorf, weit weg von Tschernobyl und den stark verstrahlten Gebieten.

Wenn Nünke und die zehn anderen Mitreisenden aus dem Verein in der weißrussischen Hauptstadt Minsk landen, dann werden sie erst einmal Wasser-Vorräte kaufen, bevor sie in den Bus steigen, der sie Richtung Wolinzy fährt. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hat auch den radioaktiven Stoff Strontium in die Atmosphäre geschleudert. Er dringt ins Erdreich vor und verseucht das Trinkewasser in der Region. Tun kann man dagegen nichts - außer die Finger vom belasteten Wasser zu lassen.

"Die meisten Leute dort sind depressiv und kraftlos. Wolinzy hat keine Zukunft". So beschreibt Ingeborg Nünke das Leben im Dorf. Nachdem es geräumt wurde, kam ein Teil der Bewohner zurück - illegal. Denn in den schnell hochgezogenen Wohnblocks für die Menschen aus den verseuchten Gebieten gab es zu wenig Platz. Trotz der gesundheitlichen Risiken zogen es viele Menschen aus der Gegend vor, in ihre Dörfer zurückzukehren.

Obwohl Tristesse den verstrahlten Ort dominiert, freut sich Ingeborg Nünke auch auf den Besuch im Ort. "Wir wollen ja wissen, ob unsere Hilfe ankommt". Deshalb will der Verein auch einen Teil der Jugendlichen besuchen, die er dabei unterstützt, eine Ausbildung zu machen. 54 Jugendliche haben dank der Hilfe des Vereins bereits einen Beruf gelernt, 17 machen momentan eine Ausbildung. Die Alternative wäre keine: "Wenn die jungen Menschen in Wolinzy bleiben, dann finden sie dort keinen Job und leben von Kindergeld", erklärt Nünke. Und mit der Perspektivlosigkeit und der Armut greift auch der Alkoholismus um sich.

Im Sommer liegt das Wasser der Sosch, einem Fluss im äußersten Osten Weißrusslands ganz ruhig da. Doch wenn im Frühjahr der Schnee schmilzt, verwandelt sich der Fluss in einen reißenden Strom. Die Wassermassen strömen auch durch das Gebiet um Wolinzy. An der Sosch führt kein Weg vorbei, wenn man von Minsk aus in das Dorf reist, die einzige Brücke in der Gegend wird unbrauchbar, wenn die Sosch im Winter zufriert. Dann fährt auch kein Bus mehr nach Wolinzy. Ein Bus bringt auch ein mal pro Woche Lebensmitteln in das Dorf, um die Menschen mit dem nötigsten zu versorgen. Denn das, was die Menschen in Wolinzy anbauen, ist verstrahlt.

"Mein jüngster Sohn war damals fünf Jahren alt", erinnert sich Nünke, Mutter von vier Kindern, Großmutter von sieben Enkeln. "Damals", das war, als die Schreckensnachricht aus Tschernobyl die deutschen Medien erreichte. Damals schlenderten Nünke und ihr Sohn über die Felder, doch seit Tschernobyl war alles anders. "Man konnte nicht mehr an Kornähren knabbern oder sich gedankenlos in die Wiese schmeißen", erinnert sich Nünke. "Wenn ich mir schon solche Sorgen mache, wie muss es dann den Eltern der Kinder um Tschernobyl gehen?" Diese Frage stellte sich Nünke damals. Seither lässt sie die Gegend nicht mehr los. "Wolinzy . . . ich hoffe, dass dort irgendwann keine Kinder mehr leben müssen".

© SZ vom 28.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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