Wochen der Toleranz:"Antisemitismus war nie weg"

Wochen der Toleranz: Auch bei Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen in Poing ist es schon zu antisemitischen Vorfällen gekommen. Die Gruppe Respekt@Poing hat dagegen Flagge gezeigt.

Auch bei Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen in Poing ist es schon zu antisemitischen Vorfällen gekommen. Die Gruppe Respekt@Poing hat dagegen Flagge gezeigt.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Hakenkreuz-Schmierereien, Verharmlosung des Holocaust: Im Landkreis Ebersberg kommt es immer öfter zu antisemitischen Vorfällen. Wichtig sei, dass Betroffenen beigestanden wird und antisemitische Anfeindungen nicht unwidersprochen bleiben, sagt Annette Seidel-Arpacı von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern.

Interview von Franziska Langhammer, Ebersberg

Wer glaubt, Antisemitismus sei ein Problem fern unseres Landkreises, der sollte mal einen Blick in die Statistiken werfen: Immer wieder und immer mehr antisemitische Vorfälle sind in den vergangenen Jahren registriert worden. Warum sie deswegen gezielt Beobachter auf Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen schickt, erklärt Annette Seidel-Arpacı im Interview mit der SZ. Sie ist Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (Rias Bayern) mit Sitz in München.

SZ: Welche antisemitischen Vorfälle in Ebersberg wurden bei Ihnen in den letzten Jahren gemeldet?

Annette Seidel-Arpacı: Für ganz Oberbayern wurden im Jahr 2021 insgesamt 283 antisemitische Vorfälle bei uns registriert, mehr als doppelt so viel wie im Jahr zuvor. Aus Ebersberg wurden uns seit 2019 Vorfälle gemeldet. Im Zuge der Proteste gegen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wurden es mehr Vorfälle. 2019 wurden in der Ebersberger Innenstadt die Rückseiten von Informationstafeln mit antisemitischen Kommentaren beschmiert, auch Hakenkreuze und Doppelsigrunen, sogenannte SS-Runen, wurden hinterlassen.

Können Sie ein paar Beispiele für die Zeit der Pandemie nennen?

Im Zuge der Corona-Pandemie tauchten an mehreren Einzelhandelsgeschäften in Glonn und Grafing Plakate auf mit Aufschriften wie "Juden haben hier keinen Zutritt mehr" - und damit ein direkter Vergleich von Maßnahmen gegen die Pandemie mit der Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus. Diese Gleichsetzung und Verharmlosung war bei vielen Vorfällen zu beobachten. Hier wurde der Täter ermittelt und wegen Volksverhetzung verurteilt. Im Januar und im Dezember 2021 kam es bei Corona-Demos in Poing zu weiteren Vorfällen: Redner setzten Ungeimpfte mit Juden im Nationalsozialismus gleich, jüdische Gemeinden wurden verhöhnt.

Wochen der Toleranz: Annette Seidel-Arpacı von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern.

Annette Seidel-Arpacı von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern.

(Foto: privat)

Warum werden Menschen, die wegen der Corona-Maßnahmen sauer sind auf die Regierung, antisemitisch?

Zunächst, weil das antisemitische Ressentiment vorhanden und abrufbar ist. Das Virus ist unsichtbar, die Maßnahmen werden abgelehnt und man schreibt in der Tradition des Antisemitismus einer vermeintlichen geheimen Elite die Schuld daran zu. Diese ist häufig antisemitisch als "jüdisch" konnotiert. Ein weiteres Motiv ist das folgende: Die Zeit der Shoah war schrecklich, aber genauso ist es heute auch, uns geht es auch so. Fast bei allen Protesten gegen die Maßnahmen tauchen gleichzeitig Verharmlosungen auf. Dabei wird die Shoah nicht mehr unbedingt geleugnet, sondern vielmehr instrumentalisiert. Man behauptet, es wäre heute "genauso schlimm" und man würde letztlich in Konzentrationslager verschleppt werden.

Im Vergleich zu anderen Landkreisen, wie würden Sie Ebersberg in Sachen Antisemitismus einordnen?

Soweit wir den Überblick haben, sticht Ebersberg nicht besonders heraus. Gerade diese Entwicklung, dass es auch in kleinen Orten auf dem Land bei Versammlungen zu antisemitischen Aussagen und Vorfällen kommt, das ist in ganz Bayern so. Aber aus vielerlei Gründen ist Oberbayern der Regierungsbezirk, aus dem uns die meisten Vorfälle dieser Art gemeldet werden.

Und zwar warum?

Einerseits, weil Rias seinen Sitz in München hat. Ich fürchte aber auch, weil es in München eine große und sichtbare Gemeinde gibt und damit sozusagen auch mehr "Gelegenheiten", Antisemitismus auszuleben. Das sieht man aber auch in anderen Städten. In Würzburg fand kürzlich am Bahnhofsplatz eine Theateraufführung statt, deren Darstellerinnen antisemitisch beschimpft wurden. Gleichzeitig ist es so, dass der Antisemitismus nichts mit Juden zu tun hat, er ist das Problem und die Haltung der Antisemiten.

Gibt es einen typischen Tätertypus?

Oft ist es schwierig, einen politischen oder ideologischen Hintergrund des Täters auszumachen, in rund der Hälfte der Vorfälle ist das nicht möglich. Es sind sowohl Frauen wie auch Männer, mit ganz unterschiedlichem Hintergrund und jeglichen Alters. Aber es geht hier nicht um Menschen an politischen Rändern, sondern um ganz normale Leute - die Nachbarn oder die Passanten, in der gesellschaftlichen Mitte.

Wie gefährlich schätzen Sie das ein, wenn Antisemitismus in der gesellschaftlichen Mitte angekommen ist?

Antisemitismus war auch nach 1945 nie weg. Es gibt einen großen Teil von Menschen mit einer antisemitischen Vorstellung oder Denkweise. Gerade im Bereich Kunst und Kultur ist Antisemitismus immer mehr verbreitet, oft auch verpackt als Israelkritik.

Israelkritik ist aber nicht per se Antisemitismus.

Meistens schon, das fängt schon bei dem Begriff an. Es gibt keine Chinakritik, es gibt keine Irankritik, wo es ja im Gegensatz zu Israel tatsächlich um autoritäre Regime geht. Die furchtbare Gewalt gegen die protestierenden Frauen und Männer im Iran wäre so ein Beispiel - gibt es Irankritik? Es gibt so ein Wort und die Vorstellung auch nur für den Staat Israel. Ich frage immer gerne zurück, woher denn das unbedingte Bedürfnis kommt, Israel "kritisieren" zu wollen, bei oft gleichzeitigem Wegsehen bei tatsächlichen mörderischen Regimen.

Wer meldet Ihnen die Vorfälle?

Ganz verschieden. Bei uns melden sich entweder Personen, die selbst direkt betroffen sind durch antisemitische Beleidigungen, oder Personen, die etwas beobachtet haben. Diese Meldungen kann man online oder per Telefon machen. Jenseits davon schicken wir auch Beobachter auf Veranstaltungen, bei denen man davon ausgehen kann, dass es zu antisemitischen Vorfällen kommt.

Wenn ich nun Zeugin einer antisemitischen Beleidigung werde, wie soll ich mich verhalten?

Wichtig ist es, Betroffenen zur Seite zu stehen und ihr oder ihm zu signalisieren: Ich finde das nicht ok. Jede und jeder muss für sich selbst entscheiden, wie weit er oder sie einschreiten kann. Aber es ist wichtig, dass Betroffenen beigestanden wird und antisemitische Anfeindungen nicht unwidersprochen bleiben. Wir bekommen sehr oft mit, dass etwa im Bus, im Zug, auf der Straße meistens niemand irgendetwas sagt. Das ist für Betroffene oft auch so schlimm wie der Vorfall selbst.

Wer antisemitische Handlungen beobachtet, kann dies unter https://report-antisemitism.de/report melden. Die Veranstaltung "Brücken schlagen - Antisemitismus im Landkreis damals und heute" mit Annette Seidel-Arpacı als Referentin findet in Kooperation mit Respekt@Poing und Bunt statt Braun - Bündnis gegen Rechtsradikalismus im Landkreis Ebersberg am Mittwoch, 9. November, 19.30 Uhr, im Max-Mannheimer-Bürgerhaus in Poing statt. Anmeldung über den Kreisjugendring Ebersberg unter mail@kjr-ebe.de oder per Telefon unter (08092)210 38.

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