Amerang:Historische Lesehilfe

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Bauernhausmuseum bietet Sütterlin-Sprechstunde an

Von Franziska Langhammer, Amerang

Manche Menschen haben einfach eine Sauklaue - ein Gräuel für persönliche Assistenten, Lehrer oder andere arme Hunde, die mit der Entzifferung der Aufzeichnungen betraut sind. Dabei müsste zumindest die lateinische Ausgangsschrift für jeden, der heutzutage Lesen und Schreiben lernt, zu entschlüsseln sein. Ungleich schwieriger wird es jedoch, wenn eine Schrift ins Spiel kommt, derer heute kaum mehr jemand mächtig ist: die Sütterlinschrift. Entwickelt wurde sie von dem Grafiker und Pädagogen Ludwig Sütterlin; 1915 wurde sie in Preußen eingeführt und an den Schulen unterrichtet, 1941 von den Nazis verboten. Von 1954 an stand sie vereinzelt wieder auf dem Lehrplan. Mit der heutigen vereinfachten Ausgangsschrift haben die verschnörkelt wirkenden, ausladenden Buchstaben wenig gemein, für ungeübte Augen beinahe unmöglich zu lesen.

Weil jedoch oft Familienerinnerungen oder auch wichtige historische Befunde an der Entschlüsselung von in Sütterlin verfassten Dokumenten hängen, hat das Bauernhausmuseum Amerang zum ersten Mal eine Sütterlin-Sprechstunde ins Leben gerufen. Interessierte konnten Briefe, Akten, Postkarten vorbei bringen und sie sich vorlesen lassen. Als Ansprechpartnerin hatte das Bauernhausmuseum Ingeborg Knöferl ausfindig gemacht, eine Dame jenseits der achtzig, die Sütterlin noch in der Schule gelernt hat. Freunde hatten sie darum gebeten, Feldpostbriefe zu entziffern, und so hatte sie sich das Dechiffrieren der alten Texte selbst beigebracht. An ihrer Seite in der Sprechstunde war Niklas Hertwig, der als Historiker beim Bauernhausmuseum arbeitet. Sie konnten etwa 20 Interessierte begrüßen.

Silvia Lindner etwa kam mit einer Postkarte ihres Opas vorbei. "Meine Mutter lebt noch, und sie kann sich nicht mehr an ihren Vater erinnern", erzählt sie, "er starb, als sie fünf Jahre alt war." Deshalb wollte sie jetzt erfahren, was er damals aus dem Krieg an seine Frau geschrieben hat. Ein Verein brachte eine alte Rechnung, andere wollten so genannte Übergabedokumente entziffert haben - notarielle Schriftstücke, welche die Hofübergabe regeln.

Manches jedoch konnte nicht einmal eine Expertin wie Ingeborg Knöferl lesen: Viele Übergabedokumente etwa stammten aus dem 18. Jahrhundert. "Da gab es die Sütterlinschrift noch nicht", erklärte sie, "es existierten viele unterschiedliche Buchstabenformen." So versuchten Knöferl und Hertwig diese Dokumente Wort für Wort zu entziffern. Ein Übergabevertrag, datiert auf den 1. April 1885, regelt zum Beispiel den lebenslangen Austrag für einen Bauern und seine Frau: Jährlich forderten sie den dritten Teil der Obsternte und pro Quartal eine Mark pro Person ein. Neben lebenslangem Wohnrecht erwarteten sie außerdem von der Tochter und deren Verlobten, ihnen standesgemäße Wäsche und Schuhe bereit zu stellen. "Solche Dokumente sind Teil unserer bäuerlichen Kultur und auch für die Nachkommen sehr interessant", erklärte Niklas Hertwig.

Auf die Idee zu der Sütterlin-Sprechstunde war man im Bauernhausmuseum auch aus eigenem Interesse gekommen. "Wir alle lesen öfter in Archiven und haben mit alten Handschriften zu tun", sagte Museumsdirektorin Claudia Richartz. So würden sie öfter von Leuten angesprochen, die Dinge vom "Butterfass bis zum Leiterwagen" für die Sachgutsammlung des Museum anböten, und oft seien eben auch Schriftstücke darunter. "Ich kann mich noch erinnern, dass wir in der Grundschule Sütterlin lesen mussten", sagte Richartz, "aber manche Kulturtechniken verlieren sich eben mit der Zeit." Wegen der positiven Resonanz wird es vielleicht auch nächstes Jahr wieder eine Sütterlin-Sprechstunde geben.

© SZ vom 21.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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