Süddeutsche Zeitung

Neues Angebot in Ebersberg:Ablenkungsfreier Genuss

In einem Pilotprojekt verleiht das Alte Kino VR-Brillen mit aufgespielten Veranstaltungen. Ein komplettes 3-D-Erlebnis ist das noch nicht, es lohnt sich trotzdem, wie ein Produkttest zeigt.

Von Michaela Pelz, Ebersberg

"Virtual Reality" - das war vor einigen Jahren noch gleichbedeutend mit dem Versprechen, einer vorher lediglich aus Science Fiction-Filmen bekannten Zukunft hautnah kommen zu können. Man musste sich nur, das nötige Kleingeld vorausgesetzt, mit einer Art Tauchermaske in "Puck die Stubenfliege" verwandeln, und schon konnte man zu ohrenbetäubenden Beats auf der Flucht vor Snipern über Zäune springen oder, weniger martialisch, Luftballons fangen. Kurzum: raus aus dem Alltag und mitten hinein in das persönliche Lieblingsspiel! Heute, gerade mal viereinhalb Jahre nachdem bei der Gamescom 2016 mit der Oculus Rift die Virtual-Reality-Brille für alle kam, findet sich die entsprechende Technik ebenso in der Ausbildung angehender Chirurgen wie in der Konfrontationstherapie, der Demenzpflege, im Immobilienbereich oder auch, wenn es darum geht, an ferne Orte oder in andere Zeiten zu reisen, ohne das eigene Heim zu verlassen.

Nun hat dank "Neustart Kultur"-Förderung auch das Alte Kino 30 VR-Brillen im Angebot und ermöglicht den virtuellen Besuch von fünf verschiedenen Veranstaltungen. Zur Auswahl stehen Konzerte von "Austria4+", "Organ Explosion" und "Sternschnuppe" sowie Programme von Han's Klaffl und "Ulan & Bator". Das soll nun getestet werden. Da aus technischen Gründen nur eine Veranstaltung pro Gerät möglich ist, werden für einen repräsentativen Versuch drei Brillen geordert, voller Vorfreude passende Vorbereitungen getroffen. Chips und Bier gehören übrigens nicht dazu - es ist ja Fastenzeit. Dann kann es losgehen.

Beim Vorgespräch mit Uschi Treffer vom Team des Alten Kinos war zu erfahren, dass es sich bei der Sache um ein Pilotprojekt handelt. So sei aufgrund der verwendeten Aufnahmetechnik für die aktuell im Verleih befindlichen Shows (noch) kein echtes 3-D-Erlebnis zu erwarten. Es ist also klar, dass man sich durch das Anlegen des 459 Gramm leichten Gummi-Schaumstoff-Teils nicht den Saal des Alten Kinos ins Wohnzimmer holt. Und doch ist das, was nun passiert, verblüffend - zumindest für einen Teil der Probanden.

Zu dritt hat man sich versammelt: ein routinierter Gamer, Anfang 20, eine Person mittleren Alters, die über erste VR-Erfahrungen verfügt, und die Reporterin, deren frühere Gehversuche mit einer VR-Tanz-Challenge aufgrund akuter Konditionsschwäche nebst drohender Kabelverhedderung abgebrochen werden mussten. Letzteres ist schon mal ausgeschlossen. Die im schicken, grauen Hardcase-Köfferchen angelieferten Testobjekte sind kabellos, die Handhabung dank eines Tutorials, zu finden auf der Seite des Alten Kinos, kinderleicht. Wie versprochen, passt auch eine herkömmliche Sehhilfe bequem unter das Gerät - der Tragekomfort ist gut, auch aufgrund der weichen Papier-Unterziehmaske für den Augenbereich. Allerdings verspürt die ungeübte Trägerin, das darf nicht verhehlt werden, nach zwei Stunden eine gewisse Erleichterung, den "Klops im Gesicht" (O-Ton Testperson Nr. 2) wieder ablegen zu können. Die vom Druck des Gummibands befreiten Schläfen danken es ihr - für einen perfekten Sitz müssen die Dinger straff anliegenden. Binge-Watching kommt also erst mal nicht infrage.

Das ist zum Glück auch nicht nötig, die Brillen dürfen mehrere Tage im Testhaushalt wohnen. Allerdings auch, weil sich der Akku vor dem Anschauen aller drei Live Streams entleert hatte. Merke: Nur weil man glaubt, das Gerät korrekt ausgeschaltet zu haben, muss das noch lange nicht der Fall sein. Dann bleibt es auf Stand-by; funktioniert zwar für einige Stunden, ewig aber nicht. Also besser zeitnah ab ins virtuelle Erlebnis. Dann aber ist der Start schon mal top, die Klangqualität beeindruckend gut - zwei von drei Testern tragen Kopfhörer, die dritte beschallt mit dem integrierten Lautsprecher den Raum. Das ist für un-VR-bebrillte Anwesende durchaus reizvoll: Schnell wird klar, dass das haltlose Lachen Klaffls "Elternsprechtag" zu verdanken ist. Den wunderbaren Mix aus Gesprächen, Einspielern und einem Best-of seiner Programme kann man sich wunderbar sogar in der Horizontalen geben. Die ist bei "Austria 4+" definitiv nicht angesagt: Ihre mitreißenden Beats gehen sofort in die Beine und ziehen eine spontane Tanzeinlage nach sich. Den Schwung muss man nutzen, also ab auf den Hometrainer! Das führt zu folgender Entdeckung: Der Sensor in der Brille merkt sich die Blickrichtung, mit der man zu Beginn des Abspielvorgangs in einem dreidimensionalen Setting auf eine formatfüllende Leinwand schaut. Dort läuft das jeweilige Video. Nach einer Körperdrehung von 180 Grad allerdings sieht man nicht mehr dieses, sondern vor und neben sich reihenweise leere Kinosessel. Um also auch den Anblick der Musiker und nicht nur ihren überwältigen Sound genießen zu können, muss man erst die eigene Position verändern und dann neu starten. Doch dann beginnt alles komplett wieder von vorn, Vor- und Rücklauf gibt es nicht. Pausen bei gleicher Blickrichtung sind jedoch möglich: Dazu nimmt man das Gerät vom Kopf und legt es auf der flächenförmigen Vorderseite ab. Mit einer Zeitverzögerung von elf Sekunden, was aktuell technisch nicht zu ändern ist, stoppt die Aufzeichnung und geht beim Wiederaufsetzen an dieser Stelle weiter.

Besser also, vorher überlegen, wo und wie man die etwa zweistündigen Vorstellungen sehen will, von denen jede ihren ganz besonderen Charme hat: Klaffls virtuoses Klavierspiel zu hintersinnigen Texten ebenso wie das, was er Markus Bachmeier und Violetta Ditterich bei Pfefferminztee im sehr persönlichen und hin und wieder ernsten Gespräch erzählt.

Das vor Publikum aufgezeichnete Programm von Ulan & Bator besticht durch seine hochprofessionelle Machart, bei der auch die Weiterentwicklung des Alte Kino-Technikteams klar erkennbar ist. Großaufnahmen, die während einer sensationell lustigen Nurejew-Hommage jede Schramme im Bühnenboden erkennen lassen. Schnitte, die einer simulierten Stocherkahnfahrt mit Mantrauntermalung einen ganz neuen Drive geben. Und ein Gesamtpaket, das einen gelungenen Abend noch einmal neu lebendig werden lässt. Die lässig-leiwanden Austria 4+ schließlich, die mit ihrem Überschmäh nicht nur den Zentralfriedhof zum Rocken bringen, sind zweifelsohne als Ersatz für die derzeit unmögliche Reise ins Nachbarland mehr als tauglich. Dennoch würde man sie noch lieber live erleben.

Das Fazit: Auch wenn der VR-Experte die an einem PC mit Hochleistungs-Grafikkarte individuell wählbaren, "begehbaren" Umgebungen vermisst, findet er die Brillen des Alten Kinos eine "coole Sache. Super unkompliziert und superschnell". Testperson 2 ist ebenfalls zufrieden, freut sich aber schon auf den Moment, wenn sie ein 3-D-Kamerabild noch intensiver mitten ins Geschehen katapultiert. Und die Reporterin? Hat gespürt, wie schön so ein Kunstgenuss ganz im Hier und Jetzt ist - bildgewaltiger als über den schnödem Heimbildschirm und ganz ohne die parallele Nutzung eines Second Screens für Mails oder eine Runde "2048". So geht Alltagsflucht in ihrer schönsten Form!

Informationen: https://kultur-in-ebersberg.de/programm/mit-vr-brille-ins-alte-kino-gebeamt/ Infos zum Live-Stream Gankino Circus-Show am Freitag, 26. Februar, unter https://kultur-in-ebersberg.de/programme/livestreams/

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Quelle:
SZ vom 26.02.2021
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