Süddeutsche Zeitung

Livestream aus Ebersberg:Sternstunde jenseits der Komfortzone

Magie, Musik und Travestie: "Jacqueline" und die "Haifische" feiern im Alten Kino das Leben und die Kunst. Über einen magisch-wilden Abend mit Botschaft.

Von Anja Blum, Ebersberg

Immer wieder muss sie sich räuspern an diesem Abend im Alten Kino. Jedes Mal, wenn die Sprache aufs Singen kommt, versagt ihr die Stimme, dann kommt nur noch ein Krächzen aus Jacquelines Mund. Ja, sie ist aufgeregt, sehr sogar, und zögert den Höhepunkt der Show deswegen ganz weit hinaus. Erst ganz zum Schluss erhebt sie ihre Stimme, gibt einen Klassiker von Hildegard Knef zum Besten: "Illusionen". Ein Song, der nicht besser zu einer Magierin, aber auch zu diesen trüben Zeiten passen könnte. Der Moment ist ein Glanzlicht - obwohl, oder gerade weil diese Künstlerin keine ausgebildete Sängerin ist. Ihre tapfere Zerbrechlichkeit und ihre Botschaft gehen ans Herz. Und so steht am Ende definitiv fest: Jacqueline sollte öfter singen. Feuertaufe bestanden.

Denn genau darum ging es an diesem Abend für Florian Reinhold aus Bruck, besser bekannt als Zauberer Gaston, der die Kunstfigur des französischen Showgirls ersonnen hat und darstellt: Auf der Bühne wieder einmal etwas zu wagen, seine große kreative Komfortzone zu verlassen, sich voller Hoffnung aufzumachen ins Unbekannte. Ausgelöst durch die Erschütterungen der Pandemie hat sich der 53-Jährige als Jacqueline in das Experiment Gesang gestürzt, ließ seine Fans online teilhaben an seinen Ängsten, Versuchen, Fortschritten. 30 Folgen von "Jacquelines Song" gibt es mittlerweile anzuschauen.

Und nun sollte es eben zur Premiere im Alten Kino kommen. Doch wieder gab Corona den Spielverderber, eine Präsenzveranstaltung war nicht möglich, so dass der Abend nun als Stream über Altes-Kino-TV auf Sendung ging. Außerdem musste die eigentlich geplante Band kurzfristig absagen. Da nutzte der Ebersberger Bühnenchef Markus Bachmeier seine Kontakte - und konnte Norbert Bürger für die Sache gewinnen. Denn siehe da: Der Freisinger Musiker und Kabarettist hat im Lockdown ebenfalls Neuland betreten, nämlich ein absolut verrücktes Trio gegründet, die Haifische. Und ja, die können kräftig zubeißen: Martin Wildfeuer am Bass, Stephan Treutter an einem fetten Drumset und Bürger selbst an der semiakustischen Gitarre scheren sich nicht um Genregrenzen, sondern zünden ein mitreißendes Feuerwerk aus Melodien, Sounds und Rhythmen. Irgendwo zwischen Rock, Metal, Funk, Jazz. Mal elegisch, mal eruptiv, immer elektrisierend. Gesang wird nur wohldosiert eingesetzt. Dabei wissen diese drei Musiker ganz genau was sie tun, sogar dreistimmigen Chorus haben sie drauf. Kurzum: Diese Band ist eine Wundertüte!

Doch wie passt diese wilde Band zusammen mit einem blond gelockten französischen Showgirl, das auf hohen Schuhen und im hautengen Glitzeroberteil über die Bühne stöckelt und das Publikum mit Karten, Bällen und Seilen verzaubert? Grundsätzlich muss man wissen, dass Reinhold schon lange und gerne mit Instrumentalisten zusammenarbeitet, etwa mit dem Cellisten Heinrich Klug. Magie und Musik ist in seinem Fall ein bewährtes Konzept: Es wird gemeinsam improvisiert, mal dient der Klang dem Zauber, mal der Zauber dem Klang. Die Haifische und Jacqueline eint nun eben nicht der Stil, aber etwas viel Wichtigeres: die unbedingte Leidenschaft, Dinge gegen den Strich zu bürsten. Denn an diesem Abend im Alten Kino kommt ja noch etwas hinzu - die Travestie. Und darin liegt der Schlüssel zum Verständnis des Geschehens: Es geht um viel mehr als um gute Unterhaltung. Es geht um den Mut, sich auf etwas Ungewohntes einzulassen, Veränderungen zuzulassen. Um spielerische Leichtigkeit. Darum, gemeinsam Freude zu erleben am Leben und der Kunst. Die Hoffnung nicht aufzugeben. "Das Schöne ist: Der eine mag Magie, der andere Musik - aber jeder bekommt hier ganz automatisch noch etwas anderes dazu", sagt Jacqueline nach der Show. So werden Horizonte erweitert, ganz einfach im Vorbeigehen.

Die Botschaft lautet: "Vielleicht ist die Störung keine Störung, sondern ein Wunder." Und Reinhold, der Showprofi, nimmt sich selbst davon überhaupt nicht aus: Ist bei seinem eigentlichen Hand-Werk, den Zaubertricks, das Scheitern noch geplanter Teil eines genialen Spiels - die rote Karte verwandelt sich leider immer wieder in eine blaue, "merde!" - so gleicht das Singen tatsächlich einem Drahtseilakt ohne Sicherung. Im langen Glitzersilberkleid steht Jacqueline am Ende vor ihrem Kleinstpublikum im Saal und öffnet sich - ohne Rücksicht auf Verluste. Nein, nicht jeder Ton sitzt, aber das muss ja auch gar nicht sein bei diesem Chanson, das laut Jacqueline davon handelt, wie wir diese schwierige Zeit besser überstehen können: "Illusionen, Illusionen sind das Schönste auf der Welt. Illusionen, Illusionen: sie sind das, was uns am Leben hält. Illusionen, sich belohnen ohne Zweck und ohne Sinn. Nur nicht denken, sich verschenken, denn wer weiß, wer weiß, wo ich schon morgen bin."

Die rund 150 Zuschauer daheim an den Bildschirmen jedenfalls sind hingerissen von diesem magischen Abend. Aus Ramersdorf, Österreich oder der Schweiz schauen und hören sie zu, schreiben den Chat voll, "ganze Bücher" gebe es da zu lesen, sagt Violetta Ditterich vom Alten Kino, die die Onlinekommunikation betreut. Überhaupt: Nicht zuletzt dem Engagement des Ebersberger Kulturteams ist es zu verdanken, dass diese trübe Zeit ab und an erhellt wird von Sternstunden wie diesen - und die Zusammenarbeit wird weitergehen: Im März soll eine neue, hybride Show-Reihe mit Gaston an den Start gehen. Und wer weiß, vielleicht schaut Jacqueline da auch mal vorbei, mit einem kleinen Lied auf den Lippen. Zu wünschen wäre es.

Wer den Abend mit Jacqueline und den Haifischen verpasst hat oder nochmal sehen möchte: In der Mediathek Altes-Kino-TV gibt es ihn zum Streamen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5479582
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/aja
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.