Altersheim:"Wer in die Pflege geht, braucht die Nehmerqualitäten eines Boxers"

Seniorenwohnheim Altenheim Rollator Pflege Vaterstetten

Der Seniorenpark Vaterstetten wird derzeit von 173 auf 273 Plätze zur vollstationären Pflege erweitert.

(Foto: Photographie Peter Hinz-Rosin)

Auch in einer der größten Pflegeeinrichtungen Bayerns ist der Fachkräftemangel ein alltägliches Problem. Leiter Sebastian Rokita ist überzeugt: Ein guter Arbeitsvertrag reicht nicht mehr.

Von Viktoria Spinrad

Ein durchdringendes Dröhnen, es geht durch Mark und Bein. Sebastian Rokita kann zwar nichts für den Lärm, entschuldigt sich aber trotzdem. Das Arbeitsgebiet des 45-jährigen Pflegeheimleiters, dunkelblaues Hemd, runde Brille, ist im Umbruch. Viele Pflegebedürftige, wenige Pfleger. Rokita bittet in einen ruhigen Raum, um zu reden. Über seine 18 Jahre als Hausleiter. Und um ein paar Dinge klarzustellen.

Mit dem Seniorenpark Vaterstetten leitet Rokita eine der größten Pflegeeinrichtungen im Freistaat. Die wird zur Zeit von 173 auf 273 vollstationäre Pflegeplätze erweitert. Deshalb rumort es hier. Genau wie in der Pflege. Dass an allen Ecken und Enden Fachkräfte fehlen, dürfte mittlerweile überall angekommen sein. Bei Rokita sowieso, es ist sein täglicher Kampf. Um Menschen, die bereit sind, Senioren Windeln anzulegen, sie zu füttern, ihnen zuzuhören. Mit seiner ruhigen Stimme sagt er: "Wer in die Pflege geht, braucht die Nehmerqualitäten eines Boxers." Wenige Pfleger, die für bescheidenes Geld viel Arbeit leisten sollen: Das ist das Spannungsfeld, in dem sich Rokita bewegt. Tag für Tag.

Er lehnt sich nach vorne, legt die Handseiten auf den Tisch. "Die Politik hat viele Jahre verschlafen. Das müssen wir jetzt auffangen." Nur wie? Zum Beispiel mit Unterstützungspaketen für die Mitarbeiter. "Da geht alles", sagt Rokita. Braucht der Ehemann Arbeit? Wie ist die Wohnsituation? Wird ein Kindergartenplatz benötigt? Wie funktioniert die Schulanmeldung?

Einmal marschierte der Heimleiter los, holte den Sohn einer gerade neu eingestellten Pflegekraft von dessen Zuhause ab und brachte ihn zu seinem neuen Fußballverein. "Heutzutage reicht es in unserer Branche beim Kampf um motivierte und engagierte Pflegekräfte nicht aus, einfach einen Arbeitsvertrag mit guten Rahmenbedingungen anzubieten", sagt er.

Und dann ist da noch die nächste Steigerung, der Grund, wieso die Firma Carecon, Träger und Besitzer des Wohnparks, es hier dröhnen lässt. Im Nebengebäude entstehen nicht nur Zimmer für Pflegebedürftige, sondern auch 50 Appartements für ihre Pfleger. Wo die Politik versagt, sich Mietpreise verselbstständigen und Mitarbeiter fernbleiben, legt der Träger selber Hand an. "Es gibt keine Alternative", sagt Rokita.

Ohne Alternative ist auch ein weiterer Ansatz der Einrichtung: Wie viele andere Einrichtungen wirbt Rokita Fachkräfte aus dem Ausland an, "vor allem über Mund-zu-Mund-Propaganda". Auf der einen Seite ein Gewinn: "Das tut uns gut. Auch, weil viele Griechen oder Polen ein soziales Großfamiliendenken mitbringen", sagt er. Auf der anderen Seite hat sein Rezept gegen den Fachkräftemangel auch einen bitteren Beigeschmack. Im Frühjahr twitterte der SPD-Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach: "Wir sollten nicht anderen Ländern Pflegekräfte wegkaufen, dort fehlen sie auch bereits."

Rokita öffnet die Handflächen nach oben. "Das ist ein zweischneidiges Schwert", sagt er. Auf der einen Seite ist da die moralische Verantwortung. "Wer soll die alten Menschen in Polen pflegen, wenn die polnischen Pfleger alle ins Ausland gehen?"Andererseits habe auch er für seine Bewohner Verantwortung. Zeit zum Warten bleibt da nicht, viel Raum für ethische Fragen erst recht nicht. Für Pragmatismus schon. "Die Kanäle ins Ausland anzuzapfen, ist eben Mittel zum Zweck."

"Die Behördengänge sind schon brutal"

Pflegeserie Sebastian Rokita

Sebastian Rokita leitet den Vaterstettener Seniorenwohnpark. Mitarbeiter über Leiharbeitsfirmen einzustellen, ist für in ein "absoluter Notnagel."

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Aus dem Ausland kam auch er. Mit 15 Jahren zog er mit seiner Familie von Polen nach Deutschland. Nach dem Abitur machte er seinen Zivildienst in einer neurologischen Klinik. "Der zwischenmenschliche Kontakt war genau meins", sagt er. Also studierte er Pflege- und Gesundheitswissenschaften. Vielleicht hätte er mit dem, was er heute weiß, ja gleich Personalwesen studiert. Denn neben dem Management des Wohnparks ist er heute vor allem eines: Personaler.

Das Ziel ist, den Seniorenwohnpark als attraktiven Arbeitgeber verkaufen und so Helfershände in den Seniorenwohnpark locken. "Zum Glück kann ich da authentisch sein, wir haben hier eine tolle Einrichtung", sagt er. Mit Fortbildungen, Sprachkursen, Behördengängen, Sportangeboten, flachen Hierarchien, einem Gefühl der Zugehörigkeit.

Rokita verschränkt die Arme. Über ihm hängt das Bild eines Wasserfalls, gemalt in einem der vielen Kurse, die er anbietet, damit sich seine Bewohner wohlfühlen. Doch seine Bemühungen als Wohnparkleiter und Arbeitgeber führen nicht immer zum gewünschten Erfolg.

Zuletzt hatte Rokita zwei Mitarbeitern aus Bosnien die Weiterbildung zur Fachkraft gezahlt. Beide lernten die Sprache, legten das erforderliche Sprachdiplom ab, integrierten sich ins Team. "Zwei Monate nach dem Abschluss wechselten sie die Einrichtung", berichtet Rokita und zuckt die Schultern. Nehmerqualitäten eines Boxers eben, und überhaupt: "Reisende soll man nicht aufhalten." Er hat keine andere Wahl, als damit zu leben. Und die Dinge sportlich zu sehen. "Das ist wie im Profifußball bei uns".

Mit dem Unterschied, dass "Fußballer" kein geschützter Begriff ist. "Pflegefachkraft" aber schon. Und einer Anerkennung bedarf, wenn der Titel aus dem Ausland kommt. "Die Behördengänge sind schon brutal", sagt Rokita, und die Prozesse "unfassbar". Manchmal müsse er monatelang auf die Anerkennung seiner Facharbeiter aus Bosnien oder Albanien warten. Bis dahin müssen die sich mit dem Titel und Gehalt einer "Pflegehilfskraft" begnügen. Rokita, der bis hierhin vor allem ruhig und bedächtig gesprochen hat, spricht jetzt schneller. "So gehen uns einige gute Leute flöten", kritisiert er.

Und wenn zu viele verloren gegangen oder gar nicht erst auf der Bildfläche erschienen sind, dann bleibt Rokita nur noch eine in der Öffentlichkeit verschriene Ultima Ratio: Leiharbeiter, die über Personalfirmen eingestellt werden. "Ein absoluter Notnagel", betont Rokita. Einerseits, weil qualitativ hohe Pflege mit einem guten, stabilen Draht zu den Bewohnern stehe und falle. Andererseits, weil die eingekauften Mitarbeiter fast doppelt so viel kosteten wie Angestellte. Rokita gestikuliert in die Luft. "Von dem Geld würde ich viel lieber meine Pfleger fortbilden."

Bis November wird es hier noch dröhnen, nach dem Umbau der Einrichtung wird Rokita dann nach und nach insgesamt etwa 50 weitere Mitarbeiter brauchen. Eine Mission, die viel Zeit erfordert. Deshalb muss der 45-Jährige jetzt wieder zurück ins Büro, zu seinem täglichen Kampf.

Zur SZ-Startseite
Seniorenzentrum

SZ PlusPflegenotstand in Krankenhäusern
:"Keine Ausrede mehr"

Die Bundesregierung will Kliniken zwingen, genügend Pfleger einzustellen. Tun sie das nicht, könnten Sanktionen folgen.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: