Süddeutsche Zeitung

Alte Brennerei:Die Poesie der Anatomie

Der Tübinger Künstler Frido Hohberger zeigt beim Ebersberger Kunstverein bemerkenswerte Zeichnungen, die sich der Natur auf ganz ungewöhnliche Weise nähern

Von Anja Blum

Wenn ein Maler sagt, die Natur sei die größte Meisterin seines Metiers, ist das Feld der Erwartungen ziemlich klar abgesteckt. Man stellt sich ein auf träumerische Landschaften, bunte Blumenbouquets, so etwas. Insofern ist das Oeuvre Frido Hohbergers eine Überraschung. Bergpanorama oder Waldidylle sucht man hier nämlich vergeblich. Der Künstler aus Tübingen verehrt die Natur zwar, doch verwandelt er diese Faszination in einen ganz eigenen bildnerischen Ausdruck: poetisch und geheimnisvoll. Ihm begegnen kann man nun in der Alten Brennerei des Ebersberger Kunstvereins, wo Hohberger mit einer Einzelausstellung zu Gast ist. Eröffnet wird die Schau am Freitag, 23. November, sie trägt den vielsagenden Titel "Zur Anatomie des Gefühls".

Erst vor zwei Jahren durfte sich Hohberger, 1949 geboren in Tauberbischofsheim, bei der Jahresausstellung über den Kunstpreis des Ebersberger Landrates freuen, er erhielt ihn für eine großformatige Kohlezeichnung. Gleich mehrere davon sind nun zu sehen: Tiere und Pflanzen porträtiert der Maler hier, allerdings nicht in ihrer natürlichen Umgebung, und in Schwarz-Weiß. "Andernfalls wäre das nämlich die totale Überinformation", sagt Hohberger, der sein Handwerk einst an der Kunstakademie Stuttgart gelernt hat. Völlig zu Recht: Auch ohne Farbigkeit - oder wahrscheinlich gerade deswegen? - entfalten seine Zeichnungen eine enorme Wucht, weil sie die Geschöpfe aus nächster Nähe zeigen. Ganz direkt blickt man hier in das Antlitz von Affe, Giraffe oder Schlange, der Künstler schafft berührende Begegnungen auf Augenhöhe, ohne die übliche "Ich hier, du da"-Distanz eines Zoos. So als wolle er sagen: "Schau nur genau hin, wir alle sind eins." Manche der Motive erscheinen dabei auch rätselhaft, stark herangezoomte, organische Gebilde, die man auf den ersten Blick gar nicht zuordnen kann. Ist das ein Herz, eine Spinne, eine Blüte vielleicht?

Auch wenn Hohberger ein Faible hat für die Naturwissenschaften, will er über sie hinausgehen, sie transzendieren, will ein Spiel mit Formen und Assoziationen in Gang bringen, das unbewusste Eindrücke anzapft. "Das Objektivierte wieder poetisieren", nennt er das. Und dabei kommt auch Ironie ins Spiel, weil er einen Trugschluss aufdeckt: Manche seiner kleineren Arbeiten geben ganz konkret künstlerische Antworten auf wissenschaftliche Darstellungen, Hohberger nämlich ist ein großer Freund alter, aufwendig gedruckter Anatomiebücher. Also zeigt er etwa die Abbildung eines Darms, ein wolkiger, beiger Wurm. "Aber so sieht ein Darm gar nicht aus", sagt er, "das ist ja eher eine blutige Masse". Die Medizin sei also nur vermeintlich objektiv. Dem modellhaften Verdauungstrakt stellt Hohberger daher seine eigene Interpretation gegenüber: eine feine, intuitive Zeichnung, die ein Darm sein könnte, aber zugleich vieles anderes. Auch eine alte Schautafel des Hygienemuseums hat er mit Kunst und Poesie veredelt.

Eine Quelle der Inspiration ist für Hohberger auch Charles Darwin, genauer gesagt sein Buch über den "Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren" von 1872. In "ganz trockenem Ton" untersucht er darin, wie sich Gefühle körperlich äußern, etwa das Erröten bei Scham oder die Mimik des Entsetzens. Ein enormes, 17-teiliges Tableau hat Hoberger dem Thema gewidmet, zu lesen von oben nach unten: Jedem Gefühl ist einen Kopf, ein Organ und andere Details sowie eine Körperhaltung zugeordnet, etwa dem Geiz die Galle, dem Ekel die Zunge, dem Neid der Penis. Allerdings sind die Darstellungen auch hier nicht realitätsgetreu, stets bleibt Raum für eigene Interpretationen.

Der Heimat geschuldet, so Hohberger, sei seine bildnerische Beschäftigung mit einem der größten deutschen Dichter: An Friedrich Hölderlin komme man als Tübinger einfach nicht vorbei. Das aber schmälert die Begeisterung nicht. Ganz wundervolle Poeme habe dieser geschaffen, zauberhafte, geheimnisvolle Fragmente eines gequälten, verwirrten Geistes. Denn dahinter verbirgt sich die Geschichte einer leidenden Kreatur, einer tragischen Liebe, einer psychischen Krankheit. Unmenschliche Behandlungen musste Hölderlin in einer Irrenanstalt über sich ergehen lassen, ein von Hohberger oft zitiertes Sinnbild dafür ist eine Maske samt Knebel. Obendrein gab es Kaltwasserbäder und eine "Märtyrersalbe", die Geschwüre hervorrief. Nachdem Hölderlin als unheilbar krank entlassen worden war, lebte er 36 Jahre lang in einem Tübinger Turmzimmer.

Hohberger nun bereichert die Poeme des Dichters mit intuitiven Illustrationen, mit grafischen Strukturen, aber auch Konkreterem wie Tropfen, Kokon, Floralem oder eben der Maske. "Wenn über dem Weinberg es flammt / Und schwarz wie Kohlen / Aussiehet um die Zeit / Des Herbstes der Weinberg, weil / Die Röhren des Lebens feuriger atmen / In den Schatten des Weinstocks. Aber / Schön ist's, die Seele - Zu entfalten und das kurze Leben". Worte wie diese, sagt Hohberger, hätte er gerne auf seinem allerletzten Stein stehen. Gibt es ein größere Kompliment?

Frido Hohberger: "Zur Anatomie des Gefühls", Ausstellung in der Alten Brennerei im Klosterbauhof Ebersberg, Vernissage am Freitag, 23. November, um 19 Uhr, zu sehen b is 16. Dezember, freitags 18 bis 20 Uhr, samstags und sonntags 14 bis 18 Uhr.

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Quelle:
SZ vom 22.11.2018
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