Eine Würdigung:Wie ein Ast, der im Wasser schwebt

Furchtlos und bewusst dem Ende entgegen: Indologin Agnes Stache-Weiske zeigt, wie gutes Sterben geht. Zum Erbe der Grafingerin zählen mehrere wissenschaftliche Bücher, drei davon hat sie in einem letzten Kraftakt fertig gestellt.

Von Michaela Pelz

Dieser Text ist unter dem Eindruck eines persönlichen Treffens am 29. März 2021 entstanden. Kurz darauf ist Agnes Stache-Weiske ihrer Krankheit erlegen.

Wer schon einmal an einer Haus- oder Seminararbeit verzweifelt ist, der weiß, wie anstrengend die Fertigstellung eines solchen Textes sein kann. Ein Buch zu produzieren, geht noch mehr an die Substanz - wie es sich anfühlen mag, zeitgleich mehrere Titel in der Mache zu haben, will man sich daher gar nicht erst vorstellen. Agnes Stache-Weiske hat diesen Kraftakt vollbracht: Seit Anfang Oktober sind drei wissenschaftliche Werke der Grafingerin erschienen. Wirklich außergewöhnlich daran sind aber weder die insgesamt 1884 Seiten, noch deren zeitgeschichtlich bedeutsamen Inhalte - sondern die Rahmenbedingungen, unter denen die Indologin arbeitet: Sie ist todkrank. In absehbarer Zeit wird die 59-Jährige an einem Pankreaskarzinom sterben.

Vorher jedoch will die Expertin für Handschriften von Sütterlin bis Sanskrit unbedingt vollenden, was sie, nach eigener Aussage "leider viel zu spät" begonnen hat, nämlich Ende der 90er Jahre, als die beiden Kinder aus dem Gröbsten heraus waren: die Erforschung des wechselvollen Lebens diverser Vorfahren - Orientalisten, Diplomaten und Sprachforscher - anhand von Briefen und anderen Originaldokumenten aus dem 19. Jahrhundert. "Es wäre schade, wenn mit mir alles verloren ginge", sagt Agnes Stache-Weiske über ihre Erkenntnisse rund um den lippischen Kanzler Friedrich Ernst Ballhorn-Rosen (dem ihr erstes Buch 1999 galt) und seine Söhne Friedrich August und Georg. Die beiden sind Protagonisten ihrer letzten Werke, wie der ebenfalls weit gereiste Linguist Anton Schiefner, zu dem allerdings keine Verwandtschaft besteht.

Nachruf Agnes Stache-Weiske

Agnes Stache-Weiske steht als Mädchen mit ihrer Mutter vor einem indischen Tempel.

(Foto: Photographie Peter Hinz-Rosin)

Auch die Autorin selbst, Tochter der Indologin Valentina Rosen und Wilfried Stache, ist bis zu ihrem Abitur an einem bayerischen Internat viel herumgekommen, hatte doch der Vater, Direktor diverser Goethe-Institute, die Familie bei seinen Einsätzen stets dabei. Egal, ob in Karachi, Teheran oder Bangalore. Bei der Erwähnung dieses Ortes erhellt sich das ausdrucksvolle Gesicht der zerbrechlich wirkenden Frau, die im Krankenbett in ihrem lichtdurchfluteten Wohnzimmer mit den vielen Bücherregalen liegt. In Indien, Lebensmittelpunkt ihrer Teenagerjahre, habe sie sich am meisten zu Hause gefühlt und lebenslange Freundschaften geschlossen. "Agnes war das größte Mädchen der Sophia High School. Ich weiß noch genau, wie sie damals als Tambourmajorin an der Spitze der Kapelle ihren Stab schwang und einfach fantastisch aussah", erzählt Kirtana Kumar, zu der noch heute enger Kontakt besteht. Die indische Schauspielerin und Dramaturgin befindet sich aktuell als Kulturstipendiatin in Bayern, häufig auch in Moosach. Die Zusammenarbeit mit dem dortigen Meta Theater hat Agnes Stache-Weiske vermittelt. Leiter Axel Tangerding erinnert sich: "Sie war eine der wenigen, die verstand, wieso ich im Laufe der Jahre die verschiedenen indischen Tänzer gezeigt habe, die uns Europäern Tanzformen wie Kuchipudi, Katakali, Kathak, Odissi oder Bharatnayam nahebringen wollten." Letzteren hat Agnes Stache-Weiske übrigens einst selbst studiert.

Doch jetzt ist Kirtana Kumar an der Reihe, ihre Jugendgefährtin mit der Zubereitung eines lang ersehnten Karamellpuddings nach Bangalore-Rezept zu erfreuen und sich von ihr zu verabschieden. Wie viele, viele andere auch in diesen Tagen. Vor kurzem hat Agnes Stache-Weiske ihren Kindern einen Brief an die Freunde und Weggefährten diktiert und um deren Besuch noch vor Ostern gebeten, da sie sich bald bereit machen werde für den Übergang. "Jeder soll kommen. Sie müssen keine Angst haben. Es ist wie es ist." Dann blitzt der Humor durch, den die Kranke zweifellos noch immer besitzt: "An meinen Anblick konnten sie sich ja mittlerweile schon gewöhnen." Besucher hat es in diesem Haus voller teils ererbter, teils selbst gesammelter Kunstobjekte immer reichlich gegeben. Die Gastfreundschaft und Großzügigkeit der Kosmopolitin (deren Vortragsreisen sie etwa nach China und St. Petersburg führten) sind legendär. Gut möglich, dass ihre Verbundenheit mit der asiatischen Kultur hier eine Rolle spielt.

Nachruf Agnes Stache-Weiske

Als Jugendliche tanzt Stache-Weiske im typisch indischen Gewand.

(Foto: Photographie Peter Hinz-Rosin)

Ganz sicher trifft dies auf die Gelassenheit zu, mit der die Indologin ihre letzte Lebensphase handhabt. Nein, Angst habe sie nicht, sagt sie mit leiser Stimme. Das Sprechen strengt sie merklich an, trotzdem macht sie weiter - das Thema ist ihr offenkundig sehr wichtig. Später wird Sohn Clemens ergänzen, was er so an seiner Mutter bewundert: "Sie hadert nicht. Seit der Diagnose. Sie hat lange gekämpft, aber es gab nie Wut oder das Versinken in Selbstmitleid oder Ähnliches." Mag sein, dass das auch mit ihrer großen Naturverbundenheit zusammenhängt. Oder mit Weltoffenheit, die mit viel Wissen über unterschiedliche Glaubensrichtungen einhergeht, ohne, dass Agnes Stache-Weiske sich einer bestimmten zugehörig fühlt. "Wer hier reinkommt und ein Gebet spricht, muss einen Schnaps trinken", erklärt Tochter Johanna und lächelt. Sie hat gerade ihr Staatsexamen in Medizin abgelegt, dem ein Abschluss in Neurokognitiver Psychologie vorausgegangen war. Die menschliche Psyche in all ihren Facetten ist ihr also nicht fremd. Und doch musste die Tochter sich erst an die bewusst gestaltete, aktive Auseinandersetzung der Mutter mit Krankheit und absehbarem Ende gewöhnen. Mittlerweile findet sie es gut, ebenso wie ihr Bruder, der promovierte Mathematiker: "Das macht es uns auch leichter." Die - dank Corona-Homeoffice - in den vergangenen Monaten gemeinsam im Elternhaus verbrachte, "gute, aber auch traurige" Zeit sehen alle drei als Geschenk: "Wir erleben jetzt ganz konzentriert und intensiv, was andere über 20 Jahre miteinander teilen." "200 Jahre", hört man da aus dem Bett.

Wo zuvor ab und an die Gedanken abgedriftet, die Zusammenhänge verschwommen waren, ist die Schwerkranke nun klar und lebhaft: "Wenn ich tot bin, gibt es ein großes Fest! Alle sollen kommen und Essen mitbringen. Da freue ich mich schon drauf." Schön sei es, so gemeinsam zu planen. Das gilt auch für die Bestattungsfeier: Was sie anziehen will, hat Agnes Stache-Weiske sich schon überlegt, ebenso wie passende Lieder und Texte. Demnächst wird eine Urne ausgesucht. Bei diesem Stichwort holt die Tochter ein tönernes Gefäß: Die Erde darin stammt von diversen Verwandtengräbern - eine To-do-Liste besagt, welche noch fehlen. "Diese Sammlung hat die Mama schon vor der Diagnose begonnen", erklärt der Sohn. Später solle immer mal etwas davon auf ihr Baumgrab gestreut werden, um die Verbindung mit den Vorfahren zu erhalten.

Diese hat Agnes Stache-Weiske vor kurzem unter Aufbietung all ihrer Kräfte einmal mehr durch ein ganz besonderes Projekt für ihre Kinder geschaffen: Fotobücher mit Bildern, Briefen von und Texten über deren Urgroßeltern, Georg und Agnes Rosen - welche ganz verblüffende Ähnlichkeit hat mit ihrer gleichnamigen Enkelin. Auch diese Bücher sind ein Beweis für den Zusammenhalt der Familie, deren Mitglieder man alle als herzliche, heitere, offene und zugewandte Menschen erlebt.

Fragt man die Kinder, was ihnen die Mutter mitgegeben hat, nennen sie deren Furchtlosigkeit. "Sie traut sich Dinge zu, die viele andere nicht machen würden. Wie zum Beispiel alleine reisen oder mit 50 noch eine Doktorarbeit machen. Diese Art, furchtlos und offen auf Neues einzugehen, bewundern wir sehr." Man möchte diese Eigenschaften ergänzen um Stärke, Selbstbestimmung und Zielstrebigkeit. Bis zuletzt.

Zwar muss Co-Autor Hartmut Walravens den vierten Band über Anton Schiefner ohne Agnes Stache-Weiske zu Ende bringen - das Formulieren und Redigieren wurde ihr zu viel. Auch hat die Schwerkranke es nicht mehr geschafft, die Originaldokumente zur Familiengeschichte, die kistenweise im Keller stehen, persönlich an das Landesarchiv NRW Abteilung Ostwestfalen-Lippe in Detmold zu übergeben, wie sie es geplant hatte. Doch was dieser außergewöhnlichen Frau auf jeden Fall gelingt: Ihre letzte Lebensspanne so bewusst und mit Freude zu gestalten, dass sie einen tiefen Eindruck hinterlässt bei jedem, der ihr begegnet. Und sei es nur kurz. Durch die offene Terrassentür hört man die Vögel zwitschern und Kinder fröhlich spielen, als sie zum Abschied sagt, ganz ruhig und ohne Bitterkeit: "Alles geht irgendwie weiter - nur für mich ist es vorbei." Möge ihre letzte Reise so sein, wie Agnes Stache-Weiske es sich in ihren Träumen gewünscht hat: wie ein Ast, der im Wasser schwebt.

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