Süddeutsche Zeitung

Abenteuer Jugendliteratur:Auf die Plätze, fertig, lesen

Lesezeit: 3 min

In der Grafinger Stadtbücherei wird wieder der beste junge Vorleser des Landkreises ermittelt. Der Sieger, Simon Seidl aus Markt Schwaben, darf nun beim Bezirksentscheid antreten

Von Christian Bauer

Ein zwölfjähriger Junge, der zu 78 Prozent Roboter ist, macht das Rennen beim Ebersberger Vorlesewettbewerb. Komisch? Nein. Denn dabei handelt es sich freilich nicht um den Gewinner Simon Seidl vom Franz-Marc-Gymnasium Markt Schwaben - auch wenn das Alter stimmt - sondern um Jimmy, die Hauptfigur des Romans seiner Wahl: "J.C. - Agent im Fadenkreuz". Gemeinsam setzten sich die beiden gegen die Vertreter zehn anderer Schulen aus dem Landkreis durch. Zum Bezirksentscheid für ganz Oberbayern geht es aber nur für Simon, denn dort darf nicht nochmal aus demselben Buch vorgelesen werden.

Wie üblich findet auch dieses Jahr der Ebersberger Regionalentscheid des inzwischen 60. Vorlesewettbewerbs des Deutschen Buchhandels in der Stadtbücherei Grafing statt. Alle elf Teilnehmer aus der sechsten Jahrgangsstufe, sechs Mädchen und fünf Jungen, hatten sich zuvor erst innerhalb ihrer Klassen, und dann an ihren Schulen behauptet. Mittelschulen, Realschulen und Gymnasien sind allesamt vertreten, und die Familienmitglieder der Wettbewerber derart zahlreich erschienen, dass kurzerhand noch eine weitere Stuhlreihe aufgebaut werden muss.

Die Bühne hingegen gehört ganz den Vorlesern. Einem von ihnen zupft die Schwester noch schnell an der Frisur herum, dann kann es losgehen. Einzeln stellen sich die Kinder vor, um dann ohne große Umschweife damit zu beginnen, wozu sie gekommen sind: vorlesen. Die Reihenfolge ist alphabetisch nach Vornamen sortiert, denn die Nachnamen der Teilnehmer werden aus Datenschutzgründen nicht genannt.

In der ersten Runde präsentieren die Sechstklässler vorbereitete Textpassagen aus eigenen Büchern. Zwischen Stinas "Gangsta-Oma", Tyroons "Jagd nach dem geheimnisvollen Illuminati-Auge", und Hanasas "Mia legt los" sind sowohl Krimis als auch Science-Fiction und Abenteuerromane vertreten. Letztlich überwiegt mit Jan-Niklas' "Darkmouth", Lisas "Petronella Apfelmus" und Vincents "Woodwalkers" aber das Fantasy-Genre. Aber auch an Tragödie fehlt es nicht: Jeremy liest aus einer jugendgerechten Version der "Titanic"-Geschichte. Für etwas Lehrreiches und Spannendes zugleich hat sich Marina entschieden: "Der Geheime Schlüssel zum Universum" ist ein Kinderbuch des Astrophysikers Stephen Hawking. Klug auch der Einfall Leas, etwas mit Bezug zur näheren Umgebung auszuwählen: In "Die Drei??? Kids - Bundesliga-Alarm" begeben sich die jungen Detektive auf Verbrecherjagd in der Allianz-Arena.

Die Zeitvorgabe liegt bei drei Minuten, auch wenn Larissas "Zauberpony" so spannend ist, dass das Mädchen die Uhr glatt aus den Augen verliert. Aber "das macht gar nichts", versichert Ulrike Blumenstock von der Mittelschule Ebersberg, die die Veranstaltung moderiert. Schließlich sei es ja etwas Schönes, wenn man sich derart in einem Buch verlieren könne.

Nach dem ersten Durchgang ist klar: Das wird heute eine schwierige Entscheidung. Die Kinder erwecken die Figuren in ihren Büchern mühelos zum Leben, heben und senken an den richtigen Stellen die Stimme, und bauen durch Variieren des Lesetempos gekonnt Spannung auf. Dennoch fühlt sich Blumenstock an einer Stelle verpflichtet zu erinnern: "Dies ist ein Vorlesewettbewerb, kein Lesewettbewerb". Es gehe also nicht darum, "wie ein D-Zug durch das Buch zu düsen".

Es folgt eine viertelstündige Pause für die Kinder, in der sie etwas trinken und sich für die zweite Runde wappnen können. Diese ist noch deutlich anspruchsvoller, da sie es nun mit einem Fremdtext zu tun bekommen. Ausgewählt wurde hierfür "Das Museum der Sprechenden Tiere" von Helen Cooper. Diesmal wird die Zeit gestoppt. Bei genau drei Minuten unterbricht Blumenstocks "Halt!" den Leser, wenn nötig, auch mitten im Satz. Wer an der Reihe ist, liest dort weiter, wo der Vorgänger aufgehört hat.

Der höhere Schwierigkeitsgrad ist den Sechstklässlern anzumerken. Insbesondere unbekannte, teils englische Begriffe bringen den Lesefluss ins Stocken. "Treadlemill Road" oder auch die Farbe "beige" stellen eine Herausforderung dar. Dennoch wird offensichtlich, warum die Teilnehmer die besten ihrer jeweiligen Schulen sind. Unter Druck einen unbekannten Text möglichst flüssig und zudem noch in mitreißender Betonung vorzutragen, ist schließlich die Königsdisziplin - und wird von allen mit Bravour gemeistert.

Dies ist nun das Problem der Jury, welcher die undankbare Aufgabe zukommt, einen Sieger zu küren. Denn am Ende kann nur ein Vorleser den Landkreis bei der Bezirksauswahl vertreten. Die Entscheidung dauert lange, und Blumenstock zufolge wäre kein Jurymitglied allein in der Lage gewesen, sie zu fällen. Letztendlich kristallisiert sich heraus, dass Simon Seidl den besten Gesamteindruck abgeliefert hat: Die richtige Auswahl von Abschnitten aus dem selbst ausgesuchten Roman sowie die korrekte Interpretation und Wiedergabe beider Passagen spielen dabei eine ebenso große Rolle wie die flüssige und sichere Technik, das angenehme Tempo und die ausgezeichnete Betonung.

Bei den oberbayerischen Bezirksentscheiden in März und April wird sich zeigen, welche Schüler zum Landeswettbewerb und damit eventuell ins Bundesfinale vorrücken. Fürs Erste jedenfalls darf sich Simon an seiner Siegerurkunde und einem Buchgeschenk erfreuen. Auch die übrigen Vorleser müssen jedoch nicht allzu enttäuscht sein: Eine Teilnehmerurkunde und eine Ausgabe vom "Museum der Sprechenden Tiere" liegt für sie alle bereit.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4340014
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 22.02.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.