700 Kilometer südöstlich von Ebersberg fliegen Pistolenkugeln durch die Luft. Winter 1997. Es ist nicht mehr weit bis nach Bosnien. Ein VW-Bus voll beladen mit Lebensmitteln, Spielzeug und Kleidung. Und zwei Frauen auf einer Mission: Friederike Häußler und Claudia Peter von der Ausländerhilfe Ebersberg wollen Waren in ein Flüchtlingslager ins bosnische Gradaçac bringen. Im Grenzbereich biegen sie ein in eine Schnellstraße und erhöhen das Tempo. Plötzlich hören sie die Schüsse. Und Friederike Häußler aus Ebersberg drückt aufs Gaspedal.
700 Kilometer nordwestlich von Gradaçac liegen Kekse auf einem Teller. Oktober 2020 in Ebersberg, keine Kugeln, sondern Kaffee mit Kondensmilch. Im Büro nebenan geht die Tür auf, ein junger Mann aus Sierra Leone kommt zum Termin in die Zentrale der Ausländerhilfe. Sein Anliegen: Er wohnt in einer Asylunterkunft in Aßling und sucht seit längerem eine Wohnung. Welche Unterlagen benötigt er? Wie bekommt man eine Schufa-Auskunft? Eine Sozialpädagogin gibt Ratschläge. Sie macht ihm klar: Es wird schwierig.
Einfach war die Arbeit im Verein Ausländerhilfe Ebersberg noch nie. Daran hat sich in 36 Jahren wenig geändert. In den 1990er Jahren transportierten die Mitglieder fuhrenweise Lebensmittel in Flüchtlingslager nach Bosnien und Zagreb. Damals waren die Zollbeamten oder Bombenangriffe die Fallstricke, aktuell stehen die Herausforderungen vor den Haustüren der Region - und viele vor der Bürotür der Ebersberger Ausländerhilfe: Familiennachzug, Jobbewerbung, Aufenthaltsverlängerung. Nicht selten führt sie die Empfehlung diverser Behörden an die Tür im ersten Stock der Von-Feury-Straße 10.
Claudia Peter sitzt nicht mehr am Lenkrad eines Gütertransports, sie steuert die Geschicke des Vereins mittlerweile aus dem Hintergrund. Ihr gegenüber setzt Ilke Ackstaller, sie ist Vereinssprecherin und vertritt die Interessen des Vereins im Ebersberger Stadtrat. Neben ihr sitzt - in gebührendem Abstand - Horst Binder aus Ebersberg. Der 78-Jährige gibt seit sechs Jahren ehrenamtlich Nachhilfestunden für Schüler. Alle drei wissen von diversen erfolgreichen Missionen zu berichten. Wenngleich es bei Ackstaller und Peter bisweilen sehr knappe Angelegenheiten waren.
Ein Blick in die Vereinshistorie zeigt, was sich in vier Jahrzehnten Flüchtlingshilfe verändert hat - und was nicht.
Ilke Ackstaller war fast von Beginn an mit dabei, sie erinnert sich an chaotische Zustände wenn es um Aufenthaltsdauern von Flüchtlingen oder deren Arbeitsgenehmigungen ging, erzählt die 67-Jährige. "Am Anfang war es ein ständiger Ringkampf mit der Ausländerbehörde", sagt sie, "ein Gegeneinander". Teilweise seien absurde Bescheide erlassen worden. Über die Jahrzehnte habe sie hier eine Verbesserung festgestellt, so Ackstaller. Gerade beim Thema Arbeitserlaubnisse werde dort "aus unserer Sicht nach wie vor oft nicht ideal entschieden", sagt sie. Die Willkür von einst aber sehe sie nicht mehr.
Claudia Peter hat einen Umschlag mit 25 Jahre alten Fotos aufgehoben, aufgenommen in einem Flüchtlingslager in Zagreb. Auf dem Foto liegt Schnee, die Menschen stehen frierend zwischen Holzhütten. Die Aufnahme, sagt Peter stammt aus dem Jahr 1995, als sie und ihre Mitstreiterin Friederike Häußler eine ihrer ersten Fuhre nach Zagreb abgelieferten. Auf einem Foto ist zu sehen, wie eine Mutter mit ihren Kindern eine Essenspaket aus Deutschland auspackt. "Hefe", "Kaffee Gold" und "Haferflocken" steht auf den Tüten. Ob die Kinder und ihre Mama die Aufschriften der Päckchen verstehen? Jedenfalls zaubern die Mitbringsel ihnen ein Lächeln ins Gesicht.
2020: Horst Binder gibt Nachhilfe,...
...Sprecherin Ilke Ackstaller vertritt den Verein im Kreistag,...
...Sozialpädagogin Caterina Maurizi ist auf Vollzeit angestellt,...
...und Claudia Peter zieht die Fäden im Hintergrund.
Die Aktionen der Ebersberger Ausländerhilfe wurden in heimischen Gefilden gewürdigt, so berichtete die SZ im Ebersberger Lokalteil und im Bayernteil rege über ein Projekt aus dem Jahr 1997. Zusammen mit ihrem steten Begleiter Mustafa Okanovic, einem bosnischen Übersetzer, startete die Ausländerhilfe Ebersberg ein Sponsorenprojekt und ließ ein hölzernes Haus im bosnischen Gradaçac bauen. "Die Leute kamen zu uns und haben geweint", wird Vereinssprecherin Friederike Häußler in der SZ vom 15. Februar 1997 zitiert.
Hintergrund: Zu dieser Zeit lebten hundert Menschen aus Bosnien seit fünf Jahren in der Kreisstadt Ebersberg, wie die SZ damals feststellte, "viele von ihnen müssen jetzt zurück - in eine Heimat, in der 80 Prozent der Häuser zerstört sind, in der es keine Arbeit und keine Zukunftsperspektiven gibt". Viele derer, die sich in Ebersberg etwas aufgebaut hatten, standen offenbar vor einer Ausweisung, beziehungsweise Abschiebung.
Für Ilke Ackstaller schließt sich hier der Teufelskreis mit der Gegenwart. "Das Hauptproblem war über die Jahre das Gleiche", sagt sie. Ein wesentlicher Anteil an geflüchteten Menschen, so ihre Wahrnehmung, "wird in Bayern unter dem Aspekt behandelt, dass sie nur für ein paar Jahre da sind, und dann gehen sie wieder". Ackstaller bezieht sich auf bürokratische Schikanen, etwa die Verweigerung von Arbeitsgenehmigungen bei Menschen aus bestimmten Herkunftsländern. Politisch "wird den Menschen zu viel in den Weg gelegt, das zieht sich bis heute so durch".
Aggression und Frust gab es früher schon, manche Fehler, die so etwas auslösen, passieren seit fünf Jahren erneut, so sieht es auch Claudia Peter. Aus 36-jähriger Erfahrung in der Asylhilfe sei sie sich in dieser einen Sache sicher: Beim Thema Wohnen. "Je kleiner die Gruppen, desto besser", sagt sie. "Dezentral funktioniert, alles andere hat Chaos-Potenzial", sagt sie.
Zurück nach Bosnien ins Jahr 1997. Plötzlich fallen die Schüsse. Zu diesem Zeitpunkt hatten Claudia Peter und Friederike Häußler vier erfolgreiche Fuhren ins damalige Jugoslawien verfrachtet. Einmal fielen in Zagreb Bomben, "da gingen die Kinder in Deckung, sie hatten noch in Erinnerung wie sich Bomben anhören", erzählt Peter. Und jetzt? Die 56-Jährige vermutet, dass die Schüsse von bosnisch-serbischen Zöllnern stammten, die ihrem Ärger Luft machten weil die Pakete aus Ebersberg nicht für sie bestimmt waren. Kurze Zeit später erreichten die zwei Frauen und ihre Ladung 800 Kilometer südöstlich von Ebersberg unbeschadet ihr Ziel.