Süddeutsche Zeitung

Drogen:Junkies sollen sich Notfallmittel selbst spritzen

Lesezeit: 3 min

Von Katharina Kutsche, München

Eine 18-Jährige an einem Freitagabend im Juni, ein 45-Jähriger am Nachmittag darauf: Beide wurde in Wohnungen in München tot aufgefunden, beide starben nach dem Konsum von Drogen. In die Polizeistatistik gehen sie als 32. und 33. Rauschgifttoter dieses Jahres ein - ein trauriger Höchstwert, im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 21.

Die Ursachen für den Anstieg sind vielfältig, sagen Experten, Mischkonsum, neue Substanzen, fehlende Konsumräume. Doch nun ist ein Gegenmittel namens Naloxon auf dem Markt, das Leben retten könnte.

Seit April bekommen Drogenkonsumenten bei der Münchner Suchthilfe-Einrichtung Condrobs Naloxon, vorausgesetzt, dass sie an einer zweistündigen Schulung teilgenommen haben. Dort zeige ein Rettungssanitäter den Abhängigen, wie das Mittel eingesetzt wird, erklärt Klaus Fuhrmann, Bereich-Geschäftsführer bei Condrobs, "vor allem, wie man sich hinterher verhält". Die Betroffenen müssten den Notarzt rufen und zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben.

Naloxon ist ein sogenannter Opiatantagonist: Bei einer Überdosierung etwa von Heroin, Fentanyl oder Methadon docken die Opiate an bestimmte Stellen im Gehirn an, unter anderem an das lebenswichtige Atemzentrum. Das Naloxon verdrängt das Opiat von diesen Punkten und hebt die gefährliche Wirkung auf - vorübergehend. Das Gegenmittel hat eine geringere Halbwertzeit als das Opiat, aber wenn dessen Wirkung nach bis zu zwei Stunden zurückkehrt, ist die Dosis meist nicht mehr tödlich.

Fuhrmann zeigt eine etwa 15 mal zehn Zentimeter große Metallbox mit Ampullen, Spritzen, Applikator und Beatmungsbeutel. Damit das Mittel eingesetzt werden kann, müssen die Konsumenten entweder selbst noch in der Lage dazu sein oder Freunde und Angehörige über das Mittel informiert haben. Nach der Schulung schreibt eine Ärztin von Condrobs ein Rezept auf das Mittel aus, das von den Suchthelfern besorgt und dem Suchtkranken übergeben wird.

Vier Schulungen mit je rund 15 Teilnehmern wurden bisher bei Condrobs durchgeführt, zwei weitere sind für dieses Jahr noch geplant. Eine Ampulle Naloxon kostet acht Euro, die von den Krankenkassen nicht übernommen werden: Die Finanzierung stemmt Condrobs mit Unterstützung der Stadt und der Bezirk Oberbayern. Für dieses Jahr ist sie gesichert, für nächstes Jahr muss neu verhandelt werden. Inwieweit Naloxon die Zahl der Drogentoten tatsächlich senken kann, muss sich erst zeigen.

Für den Anstieg der Drogentoten gibt es viele Gründe

Denn für den aktuellen Anstieg gebe es keinen einzelnen Grund, "sondern viele Bausteine, die da zusammenkommen", sagt Fuhrmann. Im Rauschgiftdezernat des Polizeipräsidiums werde die Statistik derzeit analysiert, sagt Polizeioberrat André Remy. "In all den Jahren hat es aber immer wieder starke Schwankungen gegeben."

Im Jahr 2000 etwa verzeichnete die Polizei in München 86 Drogentote, in den Jahren 2011 und 2012 jeweils 35. Mit den Ergebnissen müsse man daher vorsichtig sein, sagt Remy. Einzelne Jahreszahlen seien sehr relativ und kein aussagekräftiger Indikator für die Drogenlage insgesamt.

Wer in der polizeilichen Statistik als Drogentoter zählt, ist bundesweit einheitlich in der Polizeidienstvorschrift 386 definiert: Todesfälle infolge beabsichtigter oder unbeabsichtigter Überdosierung, infolge Langzeit-Konsums, aber auch tödliche Unfälle unter Drogeneinfluss zählen dazu - "alle Todesfälle, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Missbrauch von Betäubungsmitteln stehen", sagt Remy.

Dabei ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Zahl der Drogentoten noch höher ist. Die Condrobs-Suchthelfer ließen für das vergangene Jahr überprüfen, ob die ihnen bekannten verstorbenen Suchtkranken in der Polizeistatistik erfasst sind: Bei immerhin neun Konsumenten war das nicht der Fall.

Die Naloxon-Ausgabe durch Condrobs ist mit den Behörden rechtlich abgestimmt und werde von der Polizei unterstützt, sagt Remy: "Unter anderem haben wir die Kollegen informiert, was Naloxon ist, damit die Streifenbeamten, wenn sie jemanden damit antreffen, wissen, dass sie das Notfallset nicht sicherstellen sollen."

Bei Condrobs ist bereits ein Konsument bekannt, bei dem Naloxon eingesetzt wurde, "erfolgreich - er hat es uns selbst erzählt", sagt Fuhrmann. Der Drogenabhängige habe das Gegenmittel von seiner Freundin verabreicht bekommen und sei zunächst wütend gewesen, als er zu sich kam, weil der Rausch ausblieb: "Es hat etwas gedauert, bis er realisierte, dass seine Freundin ihm gerade das Leben gerettet hat."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3051813
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 27.06.2016
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.