Süddeutsche Zeitung

Dritter Tag im U-Bahn-Schläger-Prozess:"Umbringen" gesagt, "schlagen" gemeint

"Sie wirkten nicht sehr angetrunken": Beim U-Bahn-Schläger-Prozess haben zwei Zeugen ausgesagt und die Täter belastet.

Joachim Käppner und Bernd Kastner

Dieses Verfahren und das Verbrechen, das ihm vorausging, ist mit einigen Superlativen verbunden: Es war die vielleicht grausamste Tat des Jahres in München und gewiss diejenige, welche die Öffentlichkeit am meisten erregte. Es gab im bunkerartigen Komplex des Münchner Landgerichts den größten Medienauftrieb und die schärfsten Sicherheitsvorkehrungen.

Seit dem gestrigen Mittwoch gibt es einen weiteren Superlativ: Als Zeuge trat ein junger Mann vor, der als der unglückseligste Tropf gelten darf oder muss, der seit langer Zeit im Saal B177 ausgesagt hat: Tobias F. aus Göttingen, ein schmächtiger junger Mann mit Meckifrisur, Intellektuellenbrille und sichtbarer Pein, vor das Gericht treten zu müssen.

F. ist ein wichtiger Zeuge, denn er hat als einziger viele Stunden bis kurz vor der Tat mit den beiden Angeklagten verbracht. F. wirkt schüchtern und naiv, sogar vor Gericht, und auf den ersten Blick ist kaum zu erklären, wie der Zivildienstleistende an die polizeibekannten Jungs geraten ist, die am Abend des 20. Dezember 2007 den Pensionär Hubert N. in der U-Bahn-Station Arabellapark fast zu Tode traten.

F. traf am Nachmittag in der City auf einen Mann, genannt San, der ihn überredete, ihm doch mal kurz 90 Euro zum Wechseln zu geben. Dabei zeigte er auf eine herumlungernde Dreiergruppe und erklärte, dies seien seine Kumpels. Mit dieser Versicherung und den 90 Euro verschwindet San aus F.s Leben und der Geschichte des U-Bahn-Schläger-Verfahrens.

Als er nicht zurückkehrt, spricht F. die jungen Männer an, die sich gerade dem Biertrinken widmen. Sie erklären, den San nicht zu kennen, wollen ihm aber bei der Suche helfen. "Der San hat mich erleichtert, es ist mir sehr peinlich", sagt F. flüsternd vor Gericht.

Die drei, Serkan A., Spyridon L. und ihr Freund Muhamed H., ziehen nun mit dem Zivi herum. Sie telefonieren mit seinem Handy, kaufen Bier, gehen daddeln in der Spielhalle. Gegen acht Uhr verlässt H. die Gruppe, die Angeklagten fahren nach Haidhausen, holen neues Bier, und immer folgt ihnen F. auf den Füßen.

"Kann man sagen, dass er hinter Ihnen hergedackelt ist?", fragt Richter Reinhold Baier den Zeugen Muhamed H., und der bejaht: "Der ist immer mit uns mit." Vielleicht ist es ja die spannende Gesellschaft harter Jungs von der Straße, sehr sicher aber Blauäugigkeit: "Die Stimmung war gut", sagt F. noch jetzt vor Gericht. Er aber habe ihren Versicherungen geglaubt, "dass sie den Typen aufspüren, der mir das Geld abgenommen hat".

Es wird Abend. Ein Basketballplatz in Haidhausen, Serkan A., der Türke, telefoniert erneut mit F.'s Handy. "Dann ist es eskaliert", sagt F., noch immer ratlos. "Willst Du hören, wie ich einen Deutschen umbringe?", habe Serkan A. ins Handy gefragt und F. jäh vor die Brust getreten.

Ein weiterer Zeuge wird aufgerufen. Ihn hat Serkan damals angerufen. Gut, Serkan habe umbringen gesagt, aber das sei Slang, gemeint sei "schlagen". F. jedenfalls, mit derlei Feinheiten nicht vertraut, gerät angesichts des jähen Wandels seiner neuen Freunde in Panik und flieht. "Reg Dich nicht auf. Willst du dein Handy, hol es dir", habe A. gerufen, "doch ich", so F. vor Gericht, "habe Reißaus genommen".

Er rennt davon, versteckt sich in einem Hinterhof, klingelt Sturm, bis ihm eine Studentin öffnet. Wenig später fahren Spyridon L. und Serkan A. mit der U-Bahn davon und treffen dort auf den alten Mann, der sie wegen Rauchens ermahnt und dafür beinahe mit dem Leben bezahlt.

Nun wäre das nur eine seltsame Randnotiz eines Verfahrens, in dem es juristisch um versuchten Mord und für die Öffentlichkeit um die Frage geht, wie sicher man sich im Alltag noch bewegen kann. Aber F.'s Aussage wird mitentscheiden, wie schuldfähig die Angeklagten waren. Spyridon L. will an jenem Tag elf Bier getrunken und Erinnerungslücken haben. F. aber sagt: "Ich habe nichts bei Ihnen bemerkt." Die beiden seien "nicht stark angetrunken" gewesen.

Zuvor hatte Muhamed H. ausgesagt, der anfangs bei der Gruppe dabei war, beide hätten ihm gegenüber schon am frühen Abend erklärt, "sie spürten den Alkohol". H. blieb selbst auf bohrende Nachfragen des Richters dabei, obwohl er der Polizei anfangs nichts dergleichen gesagt hatte.

"Völlig haltlos"

Dafür belastet er die Angeklagten in einem anderen Punkt: Am Tag nach dem U-Bahn-Überfall habe ihn Serkan angerufen und gesagt, dass da Stress gewesen sei "und er einen Rucksack mitgenommen habe, darin war eine Digitalkamera".

Die gehörte Hubert N., dem Opfer vom Arabellapark, dessen Rucksack die Täter entwendet hatten. Als die Polizei ihn später fand, war keine Kamera darin. Beide schwören, sie hätten sie nicht gesehen, und blieben noch am Dienstag dabei, als sie sich bei Hubert N. entschuldigten. N. aber sagte: "Ich habe es gehört. Wenn Sie es ehrlich meinen, geben Sie mir meine Kamera zurück."

Zu Beginn des Tages erklärte die Kammer einen spektakulären Befangenheitsantrag von Spyridon L.'s Verteidiger Wolfgang Kreuzer für "völlig haltlos". Der Anwalt hatte, wie berichtet, den psychiatrischen Gutachter und Direktor der Heckscher Klinik, Franz Joseph Freisleder, ausschließen lassen wollen. Dessen Klinik hatte bei Spyridon L. einen früheren Psychoseverdacht - und damit einen möglichen Schuldminderungsgrund - verneint. Die Kammer stellte fest, dass Freisleder keinerlei Pflichtverstöße oder Fehler anzulasten seien.

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SZ vom 26.06.2008/sonn
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