Süddeutsche Zeitung

Release-Konzert in der Alten Kongresshalle:Fröhlich-furchtbares Frösteln

Ein Dreiviertelblut-Album für Fortgeschrittene: Auf "Plié" vertont die Moritaten-Band um Gerd Baumann und Sebastian Horn Gänsehaut-Momente.

Von Michael Zirnstein

Eines der schönsten Worte auf dem neuen Album "Plié" von Dreiviertelblut ist "Ganshaut", also die noch nacktere, vom letzten Federkiel befreite bairische Form der Gänsehaut, knuspriger Höhepunkt jedes Kirchweihfestes. Die lässt sich auch in Bayern auf die menschliche Epidermis übertragen, welche der Kälte, aber auch Streicheleinheiten, Grusel und Peinlichkeit ausgesetzt zur Stoppelbildung neigt. Sebastian Horn sei dafür besonders empfänglich, erklärt dessen musikalischer Partner Gerd Baumann: "Der Wastl ist schon mit Gänsehaut auf die Welt gekommen."

Dieser Feinsinnige in Gestalt eines Holzfällers also singt in seinem Lieblingslied auf der Platte, "Rossbluat und Schneider": "De Ganshaut is schee, weil se ned von der Kältn aloa daher kimmt." Das stellen im Lied eine Selbstmörderin und ein Selbstmörder fest, nachdem sie jeweils allein den Notausgang aus dem Leben erst einmal doch nicht durchschreiten konnten und mit Schlinge um den Hals und "bachratznnoss" zueinander finden. Eine furchtbare Fröstelromanze.

Mit Hunderttausenden Härchen späht er wie mit Mini-Antennen nach solch extremen Situationen, Geschichten, Gefühlen. Es sind Bilder wie jenes aus einem Fernsehbericht über Flüchtlinge auf einem Schlauchboot, von jener Mutter, die sich und ihr Kind in auswegloser Not aufgibt. Es taucht kurz im epischen Stück "Ast vom Baam" über alles Menschenschlechte auf: "Und moing schaut de Wejt scho wieder ganz anders aus, sagt sie, und schlupft mit ihrem Kind aus der Schwimmwesten raus." Der Schrecken nage immer noch an ihm, wenn er davon singe, sagt Horn. So ein elterlicher Satz hat hier nichts Tröstliches, sondern zersetzt jede Hoffnung. Das Bild von Mutter und Kind steht für den ganzen Song, eine Umkehr des Volksmusikklassikers "Drunt in der grünen Au": Die Menschheit hat sich mit der Motorsäge den Ast unterm Hintern abgesägt und fällt und fällt und fällt: "Nicht die Toten, sondern die Lebenden kommen in die Hölle", mahnt Horn da.

Für Baumann war Emmanuel Macrons "an sich okaye" Rede zur Weltgemeinschaft im Beisein von Merkel, Trump und Putin 2018 am Grab des unbekannten Soldaten in Paris so ein Moment, der ganze Schockwellen von Gedanken auslöste. Wie erzählt man seinen Kindern, warum die Gefallenen Helden sind? Er sei neulich durch Verdun gefahren, habe wieder die Geschichte von der mörderischen Front im Zweiten Weltkrieg gehört und gedacht: In der Ukraine ist es doch ähnlich.

Das führte zu einem "Trauergesang über das ganze sinnlose Gemetzel auf der Welt", dem "Lied vom unbekannten Soldaten". Darin singt Horn, in nüchterner Art seines Idols Ludwig Hirsch, aus Sicht eines Gefallenen: "Es hod mi wer daschossen, aber es hod eam ned vui bracht, hat fünf Minuten länger glebt, jetzt werd er nimmer wach." Dazu fällt ihm sein Lieblingskriegerdenkmal ein, jenes in Freising, auf dem ein Satz von Gabriel Marcel stehe: "Weil die Toten schweigen, beginnt alles von vorne."

In ihrer Vorliebe für Morbides - "Blut", "Nacht" und "schwarz" dürften die häufigsten Wörter auf der Platte sein -, für Philosophieren und Albern haben sich die zwei gefunden. 2005 war das, beim Musizieren für den Film "Wer früher stirbt, ist länger tot." Der Filmmusiker Gerd Baumann und der studierte Biologe und Bananafishbones-Sänger Sebastian Horn haben dann vor zehn Jahren für den Provinzkrimi "Sau Nummer vier" eine "folklorefreie Volksmusik" und gleich dazu die Combo Dreiviertelblut geschaffen, die zu ihrem jeweils größten Band-Projekt mit inzwischen vier Studio-Alben, einem Orchesterwerk, dem Nockherberg-Singspiel und Konzerten wie Hochämtern für eine breite Fan-Gemeinde heranwuchs.

Kein Wunder, dass die "Heimat-Sound-Supergroup" (so der BR) immer wieder angefragt wurde für gute Zwecke ("Mia san ned nua mia"), heuer durften sie den Benefiz-Hit für die "Sternstunden"-Spendenaktion beisteuern. Es gab nur ein Problem. Als die BR-Redakteurin zum Konzert kam, um zu schauen, ob man nicht eines der bestehenden Lieder verwenden könne, war bald klar: "Nein, keines dabei, das man im Fernsehen den Leuten zumuten kann ... alles viel zu düster", sagt Baumann. Also schrieben sie neu, den schattenfreien, im Kern aber auch melancholischen "Sonne Song".

Das ist nett und ehrenwert, aber auf dem eigenen Album sind sie mehr bei sich. "Wir sind geübt darin, die Stimmung nicht zu gut werden zu lassen", sagt Baumann. Es gibt schon auch helle Stücke, aber immer mit Falltür in den Keller: Ein mitreißendes Liebeslied wie "Liedeslied" entpuppt sich als ein Flehgesang aller unfertigen Lieder an ihren Macher, sie doch endlich mit einem Herz zu versehen und in die Welt zu entlassen. Und in der Fummel-Hymne "Ewige Wolke" sehnt sich ein Handy danach, vom Benutzer begrabscht zu werden, was man beim ersten Hören nicht unbedingt kapieren muss, findet Baumann.

Mittlerweile ist die Band eine feste Familie

"Plie" ist ein Dreiviertelblut-Album für Fortgeschrittene, ganz ohne simple Hits wie ihren "Deifidanz". Das liegt auch daran, dass die anfangs je nach Anlass zusammengesuchte Band nun eine feste Familie ist. Der Münchner Filmmusikprofessor Baumann weiß, was er in Dominik Glöbl (Trompete), Flo Riedl (Klarinette, Moog), Flurin Mück (Schlagzeug), Luke Cyrus Goetze (Gitarre, Lapsteel) und Benny Schäfer (Kontrabass) für exzellente Musiker hat, er komponiert jetzt speziell für ihre jeweiligen Fähigkeiten - und ganz nach seinen stilistisch weit gefächerten Vorlieben: Er liebe etwa Bebop, der in Zeitlupe ablaufe, sagt er. "Plié", das kommt von ihrem Ritual, vor Konzerten im Kreis Hacke an Hacke, Spitze an Spitze zu stehen und die Knie zueinander zu beugen, aber musikalisch geht alles weit über eine Ballettübung hinaus: Ausdrucks- und Jazztanz wechselt sich da mit Volkstanz-Dreher, Western-Polka mit Hafen-Walzer, Grufti-Schreiten mit Pogo ab.

Musikalisch ist das eine Wechseldusche für die Gefühle von aufgescheucht ("Henna Ohne Kopf") bis eingeschneit ("Im Schnee"). Manchmal braucht es dafür nur ein Glockenläuten, wie ganz am Anfang der Platte in "Om (do schneibt's)". Daran schrieb Horn gerade, als es an der Tür schellte. Der Lenggrieser Pfarrer stand da mit einer Schellackplatte unterm Arm. Die habe er beim Aufräumen der Sakristei gefunden, Horn sei doch Musiker, ob er die nicht digitalisieren könne? Darauf war das letzte Geläut der sechs Glocken vom 31. März 1942, bevor diese eingeschmolzen wurden für die Waffenproduktion im Zweiten Weltkrieg. Horn hatte gerade über die Mächtigen da oben und die Blutenden da unten gedichtet: "Oben hängen de Glockn dro, und unten ziagt der Messner o." Zufall? Das sei das Herrliche im Leben, wenn du offen bist, kommt alles zu dir, sagt der Sänger - und verspürt sogleich eine Gänsehaut aufziehen.

Dreiviertelblut, "Plié" (Millaphon), Release-Konzert am Fr., 30. Dez., München, Alte Kongresshalle

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