Süddeutsche Zeitung

Doppelt so viele Bestellungen:Der Ausnahmezustand als neue Normalität

Lieferengpässe, Falschmeldungen, Corona-Verunsicherung: Apothekerinnen und Apotheker sind in diesen Tagen auf ganz besondere Weise gefordert, wie ein Tag hinter der Plexiglasscheibe mit Claudia Prem in Oberföhring zeigt

Von Christina Brummer

Acht Uhr morgens. Lagebesprechung in der Pharaoapotheke. Claudia Prem schwört ihre Mitarbeiterinnen auf den Tag ein. "Ich habe eine fixe Auftragsbestätigung eines Maskenproduzenten", ruft Prem strahlend in die Runde. Von ihren Mitarbeiterinnen kommen freudige "Ooohs". Es sind die kleinen guten Neuigkeiten, die auch die Moral der Angestellten in der Pharaoapotheke heben. Zu kleinen guten Neuigkeiten kommen jedoch gleich wieder große schlechte. "Die Lieferzeit beträgt allerdings zehn bis 14 Tage", fügt die Chefin hinzu. Doch keine Zeit, sich zu ärgern. Um halb neun wird geöffnet. Claudia Prem verteilt die Aufgaben: Telefondienst, Desinfektionsmittel abfüllen, Kunden anrufen. Sie mögen doch bitte ihre Bestellungen nicht selbst abholen, der Botendienst liefert es. Schwierige Zeiten erfordern manchmal einfache Lösungen.

Im kleinen Büro hinter dem Verkaufsraum stapeln sich die Kisten, in einer reihen sich braune Fläschchen mit Desinfektionsmittel. Ein zimmerhoher Schrank beherbergt die bestellten Medikamente. Es sind fast doppelt so viele wie sonst. Prem tippt sich durch die Bestellliste für die nächsten Stunden. "Aktuell sind 297 Präparate nicht lieferbar", erklärt sie. "Dreimal am Tag muss ich mich damit beschäftigen, wo ich diese Medikamente beschaffen kann." Es geht um gängige Medikamente wie Blutdruckmittel und Antibiotika. Lieferdefekte nennen Experten das. Defekt, das klingt nach Schaden, und für Claudia Prem ist auch etwas kaputt im System. "Manche Kunden verstehen nicht, warum sie nun eine gelbe statt einer blauen Tablette bekommen", erzählt Prem. Einige Krankenkassen erlauben Apotheken nun, bei Engpässen auch ohne Rücksprache mit dem Arzt ein teureres Medikament zu verkaufen. So müssen Kunden nicht zweimal kommen. Davor hieß es immer rumtelefonieren, Großhändler abklappern. Eine kleine gute Neuigkeit. Die Engpässe waren schon vor Corona da, jetzt sind neue dazugekommen. Der kleine Bürokratieabbau hilft den Apotheken, für Prem kam er jedoch reichlich spät.

Claudia Prem ist jemand, der gern gut vorbereitet ist. Die Krise zwingt jedoch die meisten zu reagieren, anstatt vorzusorgen. Prem hat angesichts der aktuellen Krise schnell reagiert, ihre Mitarbeiterinnen in zwei separate Teams aufgeteilt, eine Plexiglasscheibe einbauen lassen, seit zwei Wochen stellt sie Desinfektionsmittel her. Erst vor Kurzem hat sie eine Gegensprechanlage installiert für das kleine Fensterchen, vor dem die Kunden sonst stehen, wenn sie als Notdienstapotheke Schicht hat. Damit Kunden mit Corona-Verdacht nicht reinkommen müssen. Das ist die neue Normalität.

Zur Normalität gehört inzwischen auch, dass das, was Medien schreiben, was Politiker sagen und die WHO verkündet, Menschen wie Claudia Prem zuerst zu spüren bekommen. Zum Beispiel beim Paracetamol. Das Schmerz- und Fiebermittel solle Ibuprofen vorgezogen werden, denn letzteres vertrage sich möglicherweise schlecht mit dem Coronavirus, sagte erst ein Gerücht, dann auch die WHO, die wenig später zurückruderte. Da standen die Kunden aber schon vor den Apotheken, um sich mit dem vermeintlich besseren Medikament einzudecken. "Man hat ja am Klopapier gesehen, was die Leute machen, wenn sie Angst haben. Wieso sollte es bei Medikamenten anders sein?", fragt Claudia Prem. Es war nicht anders. Prem ist es dann, die ihren Kunden erklären muss, warum es nichts mehr gibt.

Das Schlangestehen ist in der Pharaoapotheke inzwischen vorbei. Erklären, dass es nichts mehr gibt, muss Prem trotzdem noch. Am Telefon ist eine Kundin, die Atemmasken bestellt hat. Ihr Kind habe eine Lungenkrankheit, es sei dringend. "Ich gebe aktuell nur eine Maske pro Haushalt ab", sagt Prem geduldig. Arztpraxen, Pflegeheime bräuchten bevorzugt Masken. Wer hat Vorrang, wer muss warten? Es ist nicht leicht, solche Entscheidungen zu treffen. Schwer zu verstehen für Menschen, die Angst um ihre Kinder haben. Später erzählt sie, es sei schon das fünfte Telefongespräch mit der Frau gewesen. Als sie den Hörer weglegt, wirkt die 52-Jährige zum ersten Mal erschöpft. Claudia Prem ist einer dieser Menschen, die die Krise mit Humor und einem Lächeln nehmen. Einfach weitermachen, das war vor allen Dingen das Motto Mitte März, als sich die Nachrichten über das Coronavirus überschlugen. Da bediente sie doppelt so viele Kunden wie normal. Kunden, die sich mit Husten-Lösern eindeckten, Kunden, die Atemmasken und Desinfektionsmittel kaufen wollten, Kunden, die ihre üblichen Medikamente brauchten und dann noch Kunden, die unter dem aufziehenden Pollenflug litten. Heute sind es hauptsächlich Senioren, viele mit Mundschutz, die den Gang zur Apotheke gewagt haben.

Eine ältere Dame im hellblauen Mantel und buntem Schal tritt an den Tresen. Sie brauche dringend ein Medikament, der Arzt habe ihr das Rezept aber noch nicht geschickt. Die Frau atmet schwer, sie hat Asthma. Claudia Prem spricht sehr deutlich, ihre Stimme muss durch Atemmaske und Plexiglaswand zur Kundin durchdringen. "Sie sollten eigentlich nicht rausgehen", ruft Prem. "Wir bringen Ihnen die Medikamente, rufen Sie uns einfach an."

"Wenn ich die Telefonnummer wüsste, hätte ich schon angerufen", entgegnet die Frau. Im näheren Umkreis des Pharaohauses in München-Oberföhring gab es einst drei Apotheken. Zwei haben momentan geschlossen, eine dauerhaft. Prems Apotheke liegt in der Ladenpassage des Pharaohauses, die in dieser Zeit verwaist daliegt. Die Restaurants sind geschlossen. Nur der Supermarkt und die Apotheke sind noch erleuchtet. Vor allem alte Menschen kommen noch, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Mal eben eine Telefonnummer aus dem Internet holen, ist für viele eine größere Hürde, als vorbeizukommen.

Manche freuen sich aber auch über die Ansprache, die sie hier bekommen. Nicht nur in Corona-Zeiten. "Die Menschen kommen zu mir mit ihren Fragen, weil sie manchmal nicht verstanden haben, was der Arzt ihnen gesagt hat", erzählt Prem. "Wir sind bemüht, immer unser Bestes zu geben, aber wenn es so ist, wie vor ein paar Wochen, stoßen wir an Grenzen." Grenzen, Engpässe, Defekte. Alles kleine schlechte Neuigkeiten. Um ihnen zu begegnen, hat sich Claudia Prem vorbereitet. Sie stellt jetzt selbst Paracetamol als Saft her.

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Quelle:
SZ vom 07.04.2020
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