Dominik Brunner:Der Held von Solln

Dominik Brunner hat nicht den Helden gespielt; er war einer. Man darf seinen Mut nicht als Übermut denunzieren und heroisches Handeln nicht unter Verdacht stellen.

Heribert Prantl

Die Siebengescheiten und die Neunmalklugen erzählen jetzt raunend, dass Dominik Brunner sich falsch verhalten habe: Er habe seine Möglichkeiten überschätzt und einen zentralen Fehler gemacht. Er habe vergessen, Bündnispartner zu suchen und sei deswegen zum Opfer geworden, daher gewissermaßen auch selber schuld an seinem Tod.

Dominik Brunner, ddp

Dominik Brunner, der Held von Solln: Sein Bild steht auf seinem Grab.

(Foto: Foto: ddp)

Er habe gegen die Grundregel der Arbeitsblätter für Zivilcourage verstoßen: "Wenn du", so heißt es dort, "in einer S- oder U-Bahn dich gewaltbereiten Leuten entgegenstellen willst, dann suche dir als Erstes unter den Mitreisenden Verbündete, schau ihnen in die Augen und frage sie direkt: Sind Sie nicht auch der Meinung, dass wir hier einschreiten müssen? Helfen Sie mir, dass wir die Situation in den Griff kriegen."

Es habe sich, so heißt es, bei Experimenten in den USA gezeigt: Wenn man mit guter Menschenkenntnis die Richtigen anspricht, hat man bei jedem Zweiten Erfolg. Schauspieler hatten die Rollen der angetrunkenen Gewalttäter und des Opfers übernommen. Forscher zogen die Lehre: Man solle "nicht den Helden spielen". Und so steht es in polizeilichen Schulungsfibeln, um "unvorsichtigem Verhalten" vorzubeugen.

Der Hindukusch an der S-Bahn

Im Alltag ist es freilich so, dass es nicht zu wenig, sondern viel zu viel Vorsicht gibt. Es herrscht nicht zu wenig Umsicht, sondern zu viel Blindheit. Die Zivilgesellschaft ist dann stark, wenn sich viele Leute etwas trauen. Die Gesellschaft hat dann Halt, wenn viele Leute Haltung zeigen.

Es gibt nicht zu viele Menschen, die zu viel tun, sondern viel zu viele, die gar nichts tun. Das Problem der Gesellschaft ist nicht die Aktivität, sondern die Passivität. In den Situationen, in denen es gilt, gewaltbereiten Soziopathen entgegenzutreten, ist nicht ein Mangel an Vorsicht, sondern ein Mangel an Mut zu beklagen. Dominik Brunner hatte diesen Mut. Er hat sich in der S-Bahn schützend vor die Opfer gestellt und per Handy die Polizei gerufen. Er gehörte nicht zu denen, die wegschauen und sich wegducken; er hat sich nicht einschüchtern lassen. Er hat den Helden nicht gespielt; er war einer. Er hat die bürgerliche Freiheit verteidigt - nicht am Hindukusch, sondern in der S-Bahn bei München-Solln.

Es kann nicht jeder dieses Maß an Mut aufbringen. Man darf vorsichtiger sein. Aber man darf Brunners Mut nicht als Übermut denunzieren und heroisches Handeln nicht unter Verdacht stellen. Der Gesinnung des Mobs muss sich eine Gegengesinnung exemplarisch entgegengestellen. In Solln hat ein Mann nicht siebengescheit gedacht, sondern beherzt gehandelt. Er hat sich nicht, wie TV-Stars im "Dschungelcamp", in eine Gefahr begeben, die man nicht ernst nehmen muss; er hat sich einer Gefahr gestellt, die man sehr ernst nehmen muss. Sie war tödlich.

Das Opfer schreit uns an

Die moderne Leistungsgesellschaft ist eine Gesellschaft, die sich das Kalkulieren zum Prinzip gemacht hat: Leistung muss sich lohnen - mit diesem Satz werden ja auch Wahlkämpfe geführt. Die Zivilgesellschaft ist auch deswegen gefährdet, weil ein Kalkulieren in allen Lebenslagen den Gemeinsinn zerstört. Das Kalkül "es muss sich lohnen" hat übergegriffen auf Situationen, in denen es tapfer einzugreifen gilt: Die Kosten der Hilfe werden den Kosten der Nichthilfe gegenüber gestellt.

Hilfe kostet Bequemlichkeit; sie birgt die Gefahr eigener Verletzung; sie bringt Zeitverlust, womöglich auch Blamage; sie bringt Ärger mit den Behörden und die Unannehmlichkeit, als Zeuge aussagen zu müssen. Nichthilfe kostet weniger: vielleicht ein paar Gewissensbisse und, im ganz blöden Fall, eine Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung. Zivilcourage bricht aus diesem Kosten-Nutzen-Kalkül aus; sie ist selbstlos; sie kümmert sich um Andere und Anderes. Jahrelang wurden die Kümmerer als "Gutmenschen" verhöhnt; es wurde ihnen Wichtigtuerei unterstellt. Aber im Zweifel ist ein Wichtigtuer, der sich engagiert, für die Gesellschaft wertvoller als ein Nichtstuer, der dumm daherredet.

Auch das politische Dumm-Daherreden hat leider nach dem Verbrechen von Solln Konjunktur. CSU-Minister verkünden ihre alten Forderungen nach neuen Höchststrafen wie der Weisheit letzten Schluss; und sie tun dabei so, als sei solche Tumbheit das Vermächtnis des Helfers von Solln. Das ist ein politischer Missbrauch des Verbrechens. Man erinnert sich an die Kampagne des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, der meinte, er könne den Wahlkampf gewinnen, wenn er von Drillcamps für Jugendliche schwärmt - die in Wahrheit Brutstätten sind für noch mehr Gewalt.

Das Verbrechen von Solln verstört die Menschen zutiefst; es macht selbst Mutige mutlos; es potenziert die Alltagserfahrungen, die man mit aggressivem Rabaukentum macht. Statistiken können da nicht beruhigen. Gewiss: München gehört zu den sichersten Großstädten Europas. Gewiss: Die Gewaltkriminalität der Heranwachsenden hat statistisch nicht zu-, sondern abgenommen. Gewiss: Auch früher waren junge Gewalttäter brutal.

Aber das beruhigt die Menschen nicht, die in der S-Bahn Angst haben. Ein Sicherheitsgefühl ist mit Statistiken so wenig herstellbar wie mit der Erhöhung der Jugendstrafe von zehn auf 15 Jahre. Und auch die komplette Abschaffung des Jugendstrafrechts für die Heranwachsenden, also die 18- bis 21-Jährigen, würde mehr schaden als nützen. Es ist eine Mär, dass das Jugendstrafrecht grundsätzlich milde sei. Es kann schärfer sein, als es die meisten glauben, auch schärfer als das Erwachsenenstrafrecht. Und wenn für innere Sicherheit vor allem die Gefängnisse herhalten müssen, ist eh alles zu spät. Zehn Jahre Haft für einen jungen Straftäter kosten etwa 320000 Euro. Das Geld kann man früher besser einsetzen.

Das Opfer schreit uns an

Nach dem Verbrechen von Solln gibt es falsche Hilfe, erste Hilfe und fundamentale Hilfe. Falsche Hilfe bieten die Politiker, die mit Strafverschärfungen hausieren gehen. Erste Hilfe bieten sehr viel mehr Polizeistreifen im öffentlichen Raum. Prävention muss aber mehr aufbieten als Paragraphen und Polizisten. Tieferes Nachdenken stößt auf die horrende Jugendarbeitslosigkeit und auf eine gefährliche soziale und mediale Verwahrlosung junger Menschen. Schufterei in der Lohnarbeit war früher zugleich ein Prozess der Sozialisation. Die Aussichten darauf sind vielfach weggefallen; Kriminalität ist zum gemeingefährlichen Versuch alternativer Selbstbehauptung geworden.

Und die Schule? Sie ist kein Familienersatz, kein Therapiezentrum, keine psychiatrische Praxis. Aber sie muss ein Ort sein, an dem junge Menschen Anerkennung erfahren können, sie darf kein Ort von Missachtung und Ausgrenzung sein. Schulpolitik und Schulbürokratie sind nicht dafür da, den Lehrern die Zeit zu stehlen und sie unter Druck zu setzen, sondern dafür, ihnen die Zeit zu geben, um soziale Kälte zu vertreiben. Die Schule soll die Schüler zu Team-Spielern erziehen, nicht zu Einzelkämpfern.

Die schlimmste Form des Einzelkämpfertums erlebt die Gesellschaft, soeben wieder, im Schul-Attentäter. Ansbach, Winnenden, Erfurt: Solche Attentate sind Verbrechen und Hilfeschrei zugleich. Die Mordtat von Solln ist auch ein Hilfeschrei. Das Opfer schreit uns an.

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