Süddeutsche Zeitung

Dokumentartheater:Die Frau, die Gewalt und der Tod

Lesezeit: 2 min

"The Holy Bitch Project" ist ein aufrüttelndes Theatermeisterwerk

Von Egbert Tholl, München

Selten erlebt man einen Theaterabend, der so lange haften bleibt, der einen so lange nach Ende der Aufführung umtreibt. Ein klein wenig hat das mit der physischen Belastung zu tun, der man hier ausgesetzt ist, aber das ist nur ein Randaspekt. "The Holy Bitch Project" von Christiane Mudra im Pathos Theater ist großartig, zwingend notwendig und so gestaltet, dass man ihm nicht entgehen kann.

Es geht um Missbrauch von Frauen. Es geht um Vergewaltigung, sexuelle Belästigung, am Arbeitsplatz oder in der freien Wildbahn, um Mord, um Zwangsprostitution, um das Wegsehen der Polizei, der Gerichte, um sexistische Werbung, um das Einsickern eines toxischen Verhaltens in den gesellschaftlichen Mainstream, um tote Frauen, geschundene Frauen, missbrauchte Frauen, zerschlagene Frauen. Und um Incels. Um Männer, deren Frauenhass sich im Netz ausbreitet. Widerwärtige Würmer, die um ihre selbstdefinierten Privilegien fürchten, die sich den Frauen unterlegen fühlen, die nie eine abkriegen, weil sie gar nicht wüssten, wie das geht. Und die dann zu Gewalt aufrufen. Auch gegen Politikerinnen, aber vor allem gegen die Frau an sich. Und je mehr das sich im Netz ausbreitet, desto eher findet sich einer, der dann auf Mord-Tour Amok läuft. Wie Elliot Rodger. Wie Alek Minassian. Wie der Attentäter von Halle.

Christiane Mudra hat eine Recherche-Leistung vollbracht, die man schon als umfassende wissenschaftliche Studie begreifen kann. Diese Arbeit kondensiert im fabelhaften, ungeheuer detailreichen Programmheft, vor allem aber wird sie in der Aufführung selbst emotional erfahrbar. Dafür wird man erst einmal mit einem Kopfhörer ausgerüstet, der drei Kanäle hat. Auf dem roten wird man dann die Darstellenden live und einen 360⁰-Surroundsound hören, auf den anderen beiden nüchterne Dokumentationen und, wenn man es will und den harten Tatsachen entfliehen will, eine verlogene Kitsch-Variante partnerschaftlichen Glücks.

Mudra widmet sich als Dokumentartheaterspezialistin Themen, die weh tun. Ihre Bestandsaufnahmen sensibilisieren, man denkt über das eigenen Verhalten nach, aber sie sind auch ein Weckruf, der sich ans System und an die Gesellschaft richtet. Noch immer haben es Vergewaltigungsopfer schwer, vor Gericht ernst genommen zu werden. Noch immer ist häusliche Gewalt ein tagtägliches Problem, das der Lockdown noch verschärfte. Noch immer fehlen probate Mittel gegen den im Netz organisierten Hass.

Die fabelhafte Corinna Ruba begrüßt einen als dunkle Sternenkönigin mit wundervollem Gesang, fünf weitere Darstellende wuseln herum, es folgt eine Litanei der in Deutschland von ihren Lebenspartnern erschlagenen oder auch mal mit einer Kettensäge zerlegten Frauen. In den Kopf kriechen die Widerwärtigkeiten des Alltags, "hey geile Titten", die Besitzansprüche der Männer: "Meine Frau gehört mir, und ich kann mit ihr machen, was ich will." Also auch zerstören. Man hört die Erzählungen von offenkundiger Gewalt, auch die von fieser, von Manipulationen, von den schmerzhaften Abdrücken in der Psyche der Opfer, von Essstörungen, Bulimie und immer wieder Schuldgefühlen, befeuert teils von den Eltern, von der Gesellschaft. Das Panoptikum der tausend individuellen Fälle, die nie Einzelfälle sind, wandelt sich nach und nach zum Aufspüren des Fehlers im System. Das Spiel ist aus.

An diesem Dienstag findet im Pathos um 18 Uhr ein Workshop der Traumatherapeutin Susanne Funk zu Partnerschaftsgewalt statt. Am 27. Juni gibt es dort um 14 Uhr einen Workshop zu digitaler Sicherheit. Das "Holy Bitch Project" läuft noch bis 29. Juni im Pathos, jeweils um 19 Uhr. Weitere Informationen unter pathosmuenchen.de und investigativetheater.com.

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Quelle:
SZ vom 22.06.2021
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