Das Genre des Dokumentarfilms lebt von der Beziehung, die das Publikum zu seinen Protagonisten aufbaut. Entscheidend dafür: das Entstehen von Empathie und Sympathie, das Fühlen mit und für eine Person. Für den Filmwissenschaftler Hans Jürgen Wulff stellt insbesondere die Empathie eine wichtige Dimension des Filmverstehens dar. Doch was, wenn das Entstehen positiver Gefühle zunehmend schwer, gar unmöglich scheint oder sich der Zuschauer plötzlich für eine Person erwärmt, deren Werte den eigenen konträr gegenüber stehen?
Studentenverbindungen, die eigenen Privilegien als Angehörige der weißen Mehrheitsgesellschaft und ein Mordfall stellen nur einen Bruchteil der schweren Kost dar, die das Dokumentarfilmfestival "Nonfiktionale" den Zuschauern vom 16. bis 19. März auftischt. Unter dem Motto "Auf dünnem Eis" sucht das Festival laut Leiterin Tamara Daničić "die Auseinandersetzung mit Positionen oder Protagonisten, die sperrig sind, die das eigene Weltbild herausfordern, die das Fenster in Welten aufstoßen, die fremd oder gar irritierend sind". Das sind Menschen am sozialen Rand und Protagonisten, die sich gesellschaftlichen Rollen entziehen. So stählt in "I am the Tigress" eine Frau ihre Muskeln, während die Regisseurin Samira Ghahremani die Zweck-Ehe eines Österreichers und einer Thailänderin begleitet - nur zwei der Filme, die es aus rund 150 Einreichungen in das Programm geschafft haben.
Das zu füllen sei relativ leicht gewesen, einige Filme mit Potenzial mussten aus Platzgründen abgelehnt werden, sagt Daničić. Herausfordernd sei eher gewesen, "kein bleischweres Gesamtpaket zu schnüren, in dem es vor Mördern und sozial auffälligen Antiheldinnen und -helden wimmelt". Dem Festivalteam gehe es nicht um Provokation um der Provokation willen, "denn die allein macht noch keinen guten, zeigenswerten Film aus". Wichtig sei stattdessen die erkennbare Distanz zwischen den Protagonisten der Filme und Regie oder Publikum. Die entstehe auf ganz unterschiedliche Weise, beispielsweise durch Off-Kommentare der Filmemacher oder die Montage des aufgenommenen Materials.
Die Gefahr der Propaganda
"Die Frage, wie man eine passende filmische Form findet, mit der man einerseits unweigerlich unbequemen Positionen oder ambivalenten Personen eine Bühne bietet, anderseits aber auch eine kritische Haltung einnimmt, fanden wir sehr spannend und lohnend zu diskutieren", begründet Daničić die Entscheidung für das Motto. Abgelehnt wurden Werke, in denen sich zwar die Protagonisten, nicht aber die Filmmacher auf dünnes Eis begeben. Dennoch stellt sich unweigerlich die Frage, inwieweit Filmemacher das Festival ausnutzen könnten, um Propaganda zu betreiben. Tatsächlich habe es nur eine Einreichung gegeben, zu deren Inhalt das Festivalteam keine filmische Abgrenzung erkennen konnte, so Daničić. Diskussionen darüber, inwieweit man manchen Protagonisten eine Bühne geben und Haltungen der Regie problematisch finden sollte, hätten den Auswahlprozess gleichwohl vereinzelt mitbestimmt.
Einen der kontroverseren Beiträge stellt der Film "Eine deutsche Partei" von Simon Brückner dar. Von 2019 bis 2021 begleitete der Regisseur die interne Arbeit der AfD auf Bundes- und Landesebene, ließ die Protagonisten frei heraus in die Kamera reden und ließ dies unkommentiert. Der SWR stellte daraufhin die Frage, inwiefern der Film der medienbewussten Partei nutzen könne. Laut Daničić werde diese Reduzierung dem Film jedoch nicht gerecht. Stattdessen lasse die beobachtende Haltung Risse innerhalb der Partei klar erkennbar werden und die Protagonisten "sich zum Teil selbst demaskieren". Die Festivalleiterin zeigt sich dennoch gespannt auf die Publikumsmeinung und die Diskussionen mit den Filmemachern.
"Nonfiktionale - Festival des dokumentarischen Films Bad Aibling", 16. - 19. März, Aibvision Filmtheater, Bahnhofstraße 15, Bad Aibling