Süddeutsche Zeitung

Dokumentarfilm:Schreien mit Schlingensief

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Eine filmische Annäherung an den Theatermacher und sein visionäres Schaffen. Mit Filmen, Theateraufführungen und Kunst-Aktionen schrieb er deutsche Zeitgeschichte.

Von Josef Grübl

Hermann-Josef Schlingensief betrieb eine Apotheke in Oberhausen, seine Frau Anna Maria war gelernte Krankenschwester. Sie heirateten in den Fünfzigerjahren und träumten von einer großen Familie mit sechs Kindern. Doch daraus wurde nichts, erst nach Jahren der Verzweiflung kam im Oktober 1960 ihr erstes und einziges Kind Christoph Maria Schlingensief zur Welt. Dieser hatte als kleiner Junge den elterlichen Auftrag, deren Kinderwunsch in seiner ganzen Fülle darzustellen: "Ich war sechs Kinder, drei davon sachlich, drei gaga", behauptete er als Erwachsener.

Das führt auch gleich direkt zum Künstler Schlingensief, der ein ebenso gewaltiges wie gegensätzliches Werk hinterließ - und bei dem man sich stets fragt, wie er all das in nur 49 Lebensjahren hingekriegt hat. Zu seinem Oeuvre zählen Filme wie Menu Total, Terror 2000 oder Das deutsche Kettensägenmassaker, Aktionen wie "Ausländer raus! Schlingensiefs Container" oder "Church of Fear", sowie unzählige Theater- und Opernarbeiten in der Volksbühne Berlin, dem Wiener Burgtheater oder bei den Bayreuther Festspielen. Wer über einen solchen Menschen einen Film machen will, verliert schnell den Überblick - oder heißt Bettina Böhler.

Die renommierte Filmeditorin, die nicht nur Schlingensiefs Filme schnitt, sondern auch jene von Christian Petzold oder Valeska Grisebach, gibt mit dem Dokumentarfilm Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien ihr Regiedebüt. Böhler hat tief im Archiv gewühlt, sie montiert die versehentlich doppelbelichteten Aufnahmen von Vater Schlingensiefs Super-8-Kamera neben Ausschnitte aus des Künstlers Fernsehshow "Talk 2000", in der Gäste wie Hildegard Knef oder Sophie Rois lustige Dinge von sich geben. Am lustigsten aber ist Schlingensief selbst, der als eine Art Erzähler durch seinen eigenen Film führt. Das ist sehr schön, aber auch wahnsinnig traurig, macht es doch einem die Lücke, die er hinterlassen hat, noch einmal schmerzlich bewusst.

Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien , Regie: Bettina Böhler

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SZ vom 20.08.2020
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