Dokfest München:Welche Filme Sie sehen müssen

140 Dokumentarfilme aus 38 Ländern in zehn Tagen: Damit sie beim Münchner Dokumentarfilmfestival den Überblick nicht verlieren - einige Empfehlungen aus der SZ-Redaktion.

Von SZ-Autoren

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Dokfest München 2015

Quelle: Dokfest

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Als das Münchner Dokfest vor dreißig Jahren gegründet wurde, war der Dokumentarfilm in der Defensive. An den Filmen lag das nicht - Claude Lanzmann hatte gerade sein epochales Werk "Shoah" geschaffen. Und doch nannte der damalige SZ-Filmkritiker Peter Buchka den Dokumentarfilm ein "missachtetes Genre", in einem alten Festivalkatalog wird er zitiert. Heute ist das völlig anders.

Aus dem Internationalen Dokumentarfilmfestival, wie es einmal hieß, ist das schnittige Dokfest geworden, das zehn Tage lang Leinwände in der gesamten Münchner Innenstadt bespielt und mit seinen vielen Nebenreihen und Events groß und unübersichtlich geworden ist (das Programm finden Sie hier). Der Dokumentarfilm ist Teil des Unterhaltungsbetriebs, das hat seinen Preis und ist dennoch vor allem eine Erfolgsstory.

Ästhetisch wie erzählerisch hat die Gattung so viele Freiheiten wie noch nie. Neben den klassisch beobachtenden Filmen und den Aufklärungsstorys gibt es eine Fülle von Formen, auch Doku-Genre-Kino: Melodramen, Martial-Arts-Filme, Komödien und Schnulzen - hier einige Empfehlungen.

Martina Knoben

Dokfest München

Quelle: Dokfest/ The Circus Dynasty

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The Circus Dynasty - Anders Riis-Hansen, Dänemark 2014

Schwierige Sache, die erste Liebe - vor allem wenn sie auf dem Rücken von Elefanten ausgetragen wird. "The Circus Dynasty" ist ein lustiges, melancholisches Stück über die Frage, ob sich zärtliche Romantik entfalten kann, wenn sie der Logistik eines Lebens beim Zirkus unterworfen ist.

Merrylu Casselly und Patrick Berdino sind die Nachkommen zweier berühmter europäischer Zirkusfamilien, gerade dem Teenager-Alter entwachsen. Die Eltern der beiden träumen schon seit ihrer Geburt davon, dass sie sich eines Tages verlieben könnten. Tatsächlich versuchen sie sich mittlerweile als Paar - zwischen wilder Akrobatik am Trapez und auf den Elefanten. "Die könnten ganz Europa erobern", schwärmt der Vater des Mädchens. Er ist ein Schausteller alten Schlags, der sich um die Zukunft seines traditionsreichen Geschäfts sorgt und gerne betont: "Ich tu' meine Elefanten und meine Kinder gleich behandeln."

Der Däne Anders Riis-Hansen hat die Familien ein Jahr begleitet. Ohne lästige O-Ton-Erklärungen erzählt er von dem Versuch, nicht nur die Wohnwagen-Liebe aufrechtzuerhalten, sondern auch den alten Manegenzauber ins 21. Jahrhundert zu transportieren. DAVID STEINITZ

David Steinitz

Dokfest München

Quelle: Dokfest/ Krieger Vater König

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Krieger Vater König - Julian Reich, Deutschland 2015

Eine Beziehungskiste aus dem Extremsport, Ismail und Carlos, zwei Mixed-Martial-Arts-Kämpfer in Hamburg, das Training und die Kämpfe bringen sie ganz nah zusammen, und die Einsamkeit, nach den Niederlagen, in den von kalten Leuchten gepeinigten leeren Straßen der nächtlichen Stadt.

MMA gilt als extrem, mit Boxhandschuhen und barfuß, man kickt und verkeilt sich, und doch hat der Kampf eine spielerische Eleganz. Man spürt, wie das zusammengeht mit den Mantras des Kampfes - mein Ego war der Führer, der Tyrann in mir. Ich will meine Rache. Ich habe das verdient - und den traditionellen islamischen Vorstellungen des Türken Ismail.

Eines Tages bricht Carlos auf nach Los Angeles, um sich noch besser vorzubereiten in der Ultimate Fighting Championship. Die Bilder von dort sehen aus wie aus kleine Independent Movies. Er geht, ohne Abschied zu nehmen, Ismail ist enttäuscht, begreift nicht. "Manchmal will der Kopf weiterkämpfen, aber der Körper kann nicht mehr. Und das tut ziemlich weh. Innerlich."

Fritz Göttler

Dokfest München

Quelle: Dokfest/Mothers

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Mothers - Hui Jing Xu, China 2012

Ma ist ein Dorf im Norden Chinas, das es wohl eines Tages nicht mehr geben wird - die Ein-Kind-Politik wird das besorgen, jetzt schon fühlen sich die Älteren, als arbeite man an ihrer Ausrottung.

Hui Jing Xu begleitet einige Funktionäre im Dorf, die die Frauen überreden, sich sterilisieren zu lassen - am besten nach einem Kind, bestimmt aber nach dem zweiten, sonst drohen Strafgebühren, die sie nicht bezahlen können, und sie sind dann nur Einwohner dritter Klasse, dürfen die Kinder nicht zur Schule schicken. Und wenn die Funktionäre nicht die Sterilisierungs-Quoten erfüllen, dann ist das ganze Dorf dran.

Hui Jing Xu verteufelt das nicht; man kann einfach nur sehen, was das bedeutet, und wie schwer es ist, den Menschen zu erklären, dass sie in der riesigen Weite, die Ma umgibt, immer noch zu viele sein sollen. Ohne Mao, sagt die Leiterin der Sterilisierungs-Truppe, wären wir nicht hier - sie meint das als Lob.

Susan Vahabzadeh

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Quelle: dokfest

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Drone - Tonje Hessen Schei, Norwegen 2014

Unbemannte Flugkörper über Jemen, Somalia und Waziristan, klandestine Tötungsbefehle der CIA, Abschuss per Joystick. Die bitteren Fakten über den Drohnenkrieg der USA sind bekannt, erst vor zwei Wochen musste Barack Obama wieder den Abschuss zweier Unschuldiger eingestehen. In "Drone" verwandelt die norwegische Regisseurin Tonje Hessen Schei dieses abstrakte Wissen in konkrete Geschichten.

Sie zeigt überlebende Drohnenopfer in Pakistan, einen Anwalt in Islamabad, der für die Hinterbliebenen vor Gericht zieht, und den ehemaligen Drohnen-Operator Brandon Bryant, dem 1626 "Kills" zugeschrieben werden und der mit seinen Taten heute nicht mehr leben kann. Gerade weil die Dokumentation von Opfern und Tätern so dringend nötig ist und die Schauplätze so schwer zu erreichen sind, wüsste man aber gerne mehr über die Herkunft manch packender Aufnahme.

Wenn der Film etwa selbst wie eine Drohne auf Pakistan blickt: Sind das geleakte Bilder des US-Militärs? Haben die Filmemacher ihre eigene Drohnen gestartet? Oder vertrauen sie ganz auf Rekonstruktion per Computer? Man erfährt es nicht - aber für das Ethos der Aufklärung sind auch diese Fragen entscheidend.

Tobias Kniebe

Dokfest München

Quelle: Dokfest/ Nicht alles schlucken

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Nicht alles schlucken - Jana Kalms, Piet Stolz, Sebastian Winkels, Deutschland, 2015

Medikamente, notfalls Fixieren und Wegsperren heilen psychische Leiden nicht, ist aber dennoch die gängige Strategie dagegen. Seit dem Absturz der Germanwings-Maschine ist die Angst vor seelisch Kranken noch gewachsen und auch das Bedürfnis, solche Leiden - und die Leidenden - zu kontrollieren. Was das in der Praxis bedeutet und wie es vielleicht anders ginge als mit Tabletten und Zwang, lässt sich in "Nicht alles schlucken" erfahren.

Die Regisseure Jana Kalms, Piet Stolz und Sebastian Winkels ("7 Brüder") haben Ärzte, Pfleger, Kranke und Angehörige in einem Stuhlkreis zusammengebracht, wo sie - endlich einmal gleichberechtigt und miteinander - reden. Das klingt spröde, ist aber erstaunlich ergiebig. Einfache Lösungen kann es nicht geben, der Filmtitel aber ist Programm. Eine Ärztin sagt: " Man versucht, in diesem System noch Gutes zu tun, aber geht das?"

Martina Knoben

Dokfest München

Quelle: Dokfest/Andermatt

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Andermatt - Leonidas Bieri, Schweiz, 2014

"Wir haben alles verkauft, den Boden, das Dorf, unser Leben", sagt einer der Bauern. "Das ist die Chance unseres Lebens", sagt ein Pärchen, das hier oben eine Kneipe betreibt. "Wifi im Sessellift und Heizung in den Sitzen, das ist die Zukunft", sagt der schwedische Skigebietserschließer. Und Samih Sawiris strahlt: "Bei meinem Projekt gibt es nur Gewinner: mich, die Touristen. Das Dorf."

Das Dorf heißt Andermatt und liegt auf fast 2000 Metern Höhe am Gotthardpass. Seit es den Autobahntunnel gibt, kommen hier nur noch wenige Touristen vorbei. Die Skilifte sind veraltet, die Jugend wandert ab. Da taucht 2008 der ägyptische Investor Sawiris auf, der ein riesiges High-End-Resort für den globalen Jetset bauen will: 490 Ferienwohnungen, 20 bis 30 Villen, sechs Luxushotels, ein Golfplatz.

Der junge Leonidas Bieri hörte von dem Projekt und schaute sechs Jahre lang dabei zu, wie sich das Alpendorf in eine Großbaustelle verwandelt. Eine großartige Langzeitbeobachtung über die Verführungskraft des Geldes und eine kleine Gemeinde in Zeiten der Globalisierung.

Alex Rühle

© SZ.de/infu
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