Süddeutsche Zeitung

Dok-Fest-Tipp:Leben im Karton

"The Unseen" - ein Film über obdachlose Frauen in Teheran

Von Jürgen Moises

"Ich hatte einfach Pech", sagt in "The Unseen" eine der Frauen. Klingt so, als wäre sie nur mal kurz gestolpert. Aber was sie meint, ist, dass ihre Familie sie für zurückgeblieben hielt und sie misshandelt hat. Sie landete auf der Straße, lebte viele Jahre lang in einem Karton. Heute ist sie in Teheran in einer privaten Einrichtung für obdachlose Frauen untergebracht. Wie die Einrichtung heißt, erfahren wir nicht, und wir bekommen sie auch nicht zu Gesicht. Genauso wie die Frauen. Was wir sehen: Kartonfiguren in einem Kartongebäude. Die Vögel, Straßen, Brücken, ein Kino, alles ist aus Pappe.

Wieso? Nun, zum einen ist Obdachlosigkeit in Iran ein großes Tabu. Man schaut bei Obdachlosen weg oder sperrt sie weg, wenn offizielle Staatsbesuche anstehen. Dass Behzad Nalbandi die Frauen in der Einrichtung nicht filmt, das war die Bedingung für einen Besuch. Die Tonaufnahmen machte er heimlich. Zum anderen: Obdachlose werden in Iran "Cardboard Sleepers", also Kartonschläfer genannt. In "The Unseen" ist alles aus Karton. Ein Material, das Behzad Nalbandi sehr einfühlsam einsetzt, das er aber genauso auch für verblüffende Perspektiven oder Kamerafahrten nutzt. Um das ins Bild zu rücken, was man auch bei uns nur ungern sehen will.

The Unseen , Iran 2019, Regie: Behzad Nalbandi, bis 24. Mai, Stream unter dokfest-muenchen.de

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Quelle:
SZ vom 20.05.2020
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