Hinschauen und Empathie schaffen. Das ist wichtiger denn je in einer Zeit, in der Egomanen und Despoten den Ton angeben. Dass der Dokumentarfilm Mitgefühl fördert, indem er unerwartete und neue Perspektiven auf die Welt einnimmt, davon sind Daniel Sponsel und Adele Kohout überzeugt. Zum letzten Mal gestalten sie gemeinsam das beliebte Dok-Fest München, das durch seinen hybriden Charakter und das Renommee auch bundesweite Relevanz hat. Von Herbst 2025 an wird Sponsel die Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) leiten, Kohout bildet mit Maya Reichart das neue Führungsduo des Festivals.
Sponsels letzte Edition, es ist die 40., hat es in sich. 105 Filme aus 58 Ländern werden gezeigt, darunter 19 Welt- und 56 Deutschlandpremieren. Zu sehen sind die Werke zunächst in den Kinos und anderen Spielstätten (7. bis 18. Mai), zeitversetzt und deutschlandweit dann als Stream für zu Hause (12. bis 25. Mai). Karten gibt es im Festivalzentrum (HFF) oder online über die Website. Komplett neu ist die Struktur: 16 thematische Reihen ersetzen das bisherige Programmschema. Neu ist auch der Name der drei Hauptpreise: Aus Viktor wird Viktoria. Eine neue Auszeichnung gibt es auch: Der „All inclusive Award“ ist mit 5000 Euro dotiert, wird von der Werksviertel-Mitte Stiftung München verliehen und würdigt Produktionen, bei denen Filmschaffende mit Behinderungen federführend waren. Da es sich um die 40. Ausgabe handelt, gibt es zusätzlich ein kleines Jubiläumsprogramm.
Jubiläumsprogramm

40 Jahre sind eine Ansage. Laut Veranstalter haben seit 1985 mehr als 750 000 Zuschauer fast 3000 Filme gesehen. Vier davon kommen in einer kleinen Retrospektive noch einmal zur Aufführung. Der Oscar-prämierte Politthriller „Citizenfour“ über Edward Snowden (2014) und die biografische Trauma-Tanz-Therapie „The Euphoria Of Being“ (2019) dürften Stammgästen noch in guter Erinnerung sein. Weiter zurück liegen die musikalische Zelluloid-Improvisation „Step Across The Border“ aus dem Jahr 1990 und „Les Glaneurs et la Glaneuse“ von Agnès Varda (2000). Eine Ausstellung im Gasteig HP8 (Halle E) erinnert mit Impressionen der Festivalfotografen sowie Plakaten an 40 Jahre Dok-Fest (29. April bis 25. Mai). Kein runder Geburtstag ohne eine anständige Party: Zur Jubiläumsfeier laden die Gastgeber am 10. Mai, 20 Uhr, ins Ampere. Hier treten zunächst Bands und Musiker auf, die das Festival geprägt haben: Angela Aux, Joasihno und Van Damme 38. Anschließend legt DJ Achim Bogdahn auf.
Eröffnungsfilm und große Filmabende

Erich Fried schrieb einmal: „Wenn ich mich auch nur an den Anfang gewöhne, fange ich an, mich an das Ende zu gewöhnen.“ Daraus kann man den eher pessimistischen Blick des britisch-österreichischen Lyrikers auf die Welt erahnen, in Bezug auf das Dok-Fest hat es auch etwas Positives: Im Eröffnungsfilm „Friendly Fire“ geht es um Fried, dessen Gedichtbände ein breites Publikum erreichten und der einen starken Drang zur Versöhnung mit Extremen jeglicher politischen Couleur hatte. Regie führte Klaus Fried, sein 1988 verstorbener Vater erschien ihm anfangs fremd – am Ende erkannte er aber, wie ähnlich er ihm ist. Auch eine Art von Gewöhnung.
Das Dok-Fest zeigt „Friendly Fire“ am 7. Mai im größten temporären Kinosaal der Stadt, dem Deutschen Theater. Bis 11. Mai sind dort täglich Filme zu sehen, neun insgesamt, unter anderem „The White House Effect“ (über den Einfluss von Lobbyisten auf die Klimapolitik), die Künstler-Doku „Ai Weiwei’s Turandot“, ein Film über eine Fahrlehrerin aus Saudi-Arabien („Azza“) oder das Musikerporträt „Endlich unsterblich“ über den Münchner Songwriter Florian Paul.
Filme und Reihen

Beim Blick auf das Weltgeschehen konnte in den vergangenen Wochen und Monaten das Gefühl aufkommen, dass sich derzeit etwas radikal verändert. Beim Blick auf das Programm des Dok-Fests (das ja das Weltgeschehen filmisch abbildet) stellt sich dieses Gefühl ebenfalls ein, nur kann man es hier genau benennen: Zur Jubiläumsausgabe gibt es ein neues Programmschema, das für einen besseren Überblick und mehr Orientierung sorgen soll. Statt die Filme in eher nichtssagende Sektionen wie „Panorama“, „Horizonte“ oder „Best of Fests“ zu packen, werden sie in 16 thematisch fokussierten Reihen präsentiert. Unter Reihen-Titeln wie „Nie wieder ist jetzt?“, „Crossing Boundaries“, „This is America“, „Brave New Work?“, „Family Affairs“, „The Sound of Music“ oder „About Art“ dürfte sich das Publikum eher etwas vorstellen können. Es geht um Erinnerung und Widerstand, Migration, die aktuelle Lage in den USA, um Arbeitswelten, Familiengeschichten oder Musiker und Künstlerinnen. Auch Mensch und Natur, Vergangenheit und Gegenwart oder Filme über Klimagerechtigkeit bekommen eigene Reihen.
Über die Qualität des Programms sagt das natürlich noch nichts, Höhepunkte gibt es aber einige unter den 105 Festivalfilmen. Auf großes Interesse dürften politisch brisante Produktionen wie „The Last Republican“ stoßen: Der Film porträtiert den republikanischen Abgeordneten Adam Kinzinger aus Illinois, der sich gegen Trump stellte und seitdem massiv angefeindet wird. „Blame“ aus der Schweiz erzählt von Wissenschaftlern, die lange vor den Gefahren einer Pandemie warnten und Verschwörungstheoretikern, die sich ihren eigenen Reim auf das Coronavirus machen.
Im deutschen Film „Spaltung“ geht es um stillgelegte Atomkraftwerke und Menschen, die diese Art der Energieerzeugung zurückhaben wollen. Der Film „We All Bleed Red“ porträtiert den berühmten Fotografen Martin Schoeller, der Hollywoodstars ebenso ablichtet wie Menschen am Rande der Gesellschaft. Nicht minder berühmt ist Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der es mit störrischen Staatenlenkern wie Orbán, Erdoğan oder Trump zu tun bekam und trotzdem stets den richtigen Ton zu treffen versuchte („Facing War“). „The Ground Beneath Your Feet“ erzählt von den Bewohnern des ältesten Pflegeheims in Island, „Ein Leben in Farbe“ von einer fidelen 92-jährigen Deutsch-Amerikanerin. Glückliche Zeiten gab es auch einmal in Gaza: „Yalla Parkour“ begleitet palästinensische Parkourläufer.
Spielorte

Seit Daniel Sponsel 2009 Dok-Fest-Chef geworden ist, expandiert das Festival. Peu à peu wurden zusätzlich zu den Kinos weitere Spielorte in der Stadt erschlossen, allen voran das große Deutsche Theater (siehe oben). Pandemiebedingt drang das Festival 2020 auch ins Heimkino vor. Die 40. Ausgabe zieht besonders weite Kreise. So ist erstmalig die Supernova der Münchner Kultur, das Bergson Kunstkraftwerk in Aubing, Dok-Fest-Spielort. Filme kann man auch im Volkstheater und Lenbachhaus sowie in der Pinakothek der Moderne auf sich wirken lassen. Zahlreiche vertraute Kinos (etwa City, Neues Maxim, Rio oder Filmmuseum) und ebenso vertraute Kulturorte wie das Literaturhaus sind ebenfalls integriert.
Bemerkenswert ist die Expansion nach Augsburg. Zwar gibt es seit ein paar Jahren bereits die Dok-Tour Bayern, auf der ausgewählte Festival-Highlights in Kinos von Oberbayern bis Unterfranken wiederholt werden. Die Augsburg-Gastspiele zum 40-Jährigen sind dennoch ungewöhnlich. In zwei Kinos, Liliom und Thalia, ist bereits während des Festivals, von 8. bis 12. Mai, eine kleine Auswahl aus dem aktuellen Programm zu sehen. Augsburg und München vereint im Dokumentarfilm.
Rahmenprogramm

Kino muss nicht immer im Kino stattfinden. Das Dok-Fest zeigt in der ganzen Stadt Filme – einen Saal oder eine Leinwand braucht es dafür nicht immer: Im Futuro vor der Pinakothek der Moderne findet das VR-Pop-up-Kino statt, bei freiem Eintritt, Tickets können online gebucht werden. Drei Virtual-Reality-Experiences und eine Augmented-Reality-Anwendung gibt es: In „Cityflow – Loomits München“ geht es mit dem Graffiti-Künstler Loomit auf Städtereise, in der AR-Installation „Current“ taucht man in die Tiefsee ab und erlebt Unterwasserwelten sowie Umweltverschmutzung. Auch ein Besuch bei Egon Schiele steht auf dem Programm, der österreichische Maler (1890–1918) fertigt in „Schiele – Eine persönliche Begegnung in VR“ kurz vor seinem Tod eine letzte Zeichnung an: ein Porträt von uns.
Mittendrin statt nur dabei: Das gilt auch bei regulären Filmvorstellungen, bei vielen soll es Publikumsgespräche geben, bei einigen werden sogar Stars wie Simon Rattle (zu sehen in „Simon! The Joy of Conducting“) oder die Opernsängerin Angel Blue (in „Primadonna or Nothing“) erwartet. Zum Mitmachen aufgefordert wird man auch bei einem Workshop, der gemeinsam mit dem mobilen Fahrradkino „Ciné Vélo Cité“ angeboten wird: Hier lernen Kinder und Jugendliche, wie man mit einfachen Mitteln Trickfilme herstellt.
Bildungsprogramm

Boxen oder backen? Am besten beides: In „Runde 3“ verbindet eine 14-Jährige ihre Leidenschaft für den Boxsport mit einer großen Liebe zum Tortenbacken, es geht um Selbstfindung und die Erfüllung ihrer Träume. Der belgische Kurzdokumentarfilm ist Teil des Bildungsprogramms Dok-Education, unter dem Motto „Schule des Sehens“ werden inklusive, integrative und inspirierende Filme über Kinder gezeigt. In mehr als 30 Workshops schauen Schulklassen diese Filme, im Anschluss daran wird diskutiert.
Die Nachfrage nach diesem Medienbildungsangebot ist so groß, dass es auch dieses Jahr dual angeboten wird: in München (in der HFF, Pasinger Fabrik und im Gasteig HP8) sowie deutschlandweit als Online-Programm (bis 1. August). An Lehrkräfte richtet sich die Filmplattform „Nexus“, hier geht es um die Integration von Dokumentarfilm-Inhalten im Unterricht. Bei jungen Festivalgästen beliebt ist auch das Rahmenprogramm: In der HFF lernen sie bei einem Workshop mit dem Moderator Julian Janssen alias Checker Julian, wie man vor einer Kamera spricht. In einem weiteren Workshop geht es um den Einsatz von KI in Filmen – und wie man KI-Inhalte und Falschinformationen erkennt.
40. Dok-Fest München, Mittwoch, 7., bis Sonntag, 18. Mai (im Kino), Montag, 12., bis Sonntag, 25. Mai (im Heimkino), div. Orte und Spielstätten, Festivalzentrum: Hochschule für Fernsehen und Film (HFF), Programm unter dokfest-muenchen.de